„Go to a movie. Relax.“ Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas „Zeuge einer Verschwörung' („The Parallax View“ (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, von seinem Redakteur mit auf den Weg. Die Tatsache, dass dieser Unerschrockene seine Recherchen letztlich mit dem Leben bezahlen wird, zeigt deutlich, dass wir uns hier gerade nicht in einer Tradition des Kinos bewegen, die die Zuschauenden entspannt, mit der Welt versöhnt zurück in ihren Alltag entlässt. Vielmehr waren die US-amerikanischen Paranoia-Thriller der siebziger Jahre, für die Pakulas Film ein Paradebeispiel liefert, Ausdruck einer tiefen Verunsicherung der Menschen gegenüber der Macht. Dass „die da oben“ im Interesse des Volkes handelten, schien im Angesicht von Watergate und Vietnam fraglicher denn je. (Bestimmte Spielarten des Horrorfilms, der in dieser Dekade in den USA ebenfalls florierte, lieferten dazu gewissermaßen das Gegenstück: Statt der Angstphantasie des Mittelschichts-Großstädters vor den Machenschaften der Mächtigen, kam die Bedrohung hier von „unten“. In Form kannibalischer Rednecks in Hoopers „Blutgericht in Texas' („The Texas Chainsaw Massacre“) oder Cravens „Hügel der blutigen Augen' („The Hills have Eyes“) oder Romeros Zombies, die den bürgerlichen Individuen das Land streitig machten, eine neue frontier mitten durch das amerikanische Hinterland verlaufen ließen.)
Während in den USA die Tradition des Paranoiathrillers heute etwa in Fernsehserien wie „House of Cards“ fortgeschrieben wird (allerdings mit einem entscheidenden Perspektivwechsel, bei dem nun nicht mehr das streithafte Individuum im Kampf mit einem durch und durch korrupten System im Mittelpunkt steht, sondern ein Vertreter eben dieses Systems, der sich Journalisten, die zu viel wissen, auch schon mal durch Mord entledigt), hat das Genre hier in Deutschland gar keine Geschichte, die sich fortschreiben ließe. Dabei scheint die Atmosphäre unserer Gegenwart im Angesicht etwa der haarsträubenden Verwicklungen um die Mordserie des NSU oder immer neuer Skandale um die Abhörtätigkeiten der Geheimdienste geradezu dazu einzuladen, den Institutionen und den Mächtigen zu misstrauen.
Da passt es nur zu gut, dass mit „Die Lügen der Sieger“ nun ein veritabler deutscher Paranoiathriller in die Kinos kommt und ebenfalls, dass dieser von Christoph Hochhäusler stammt. In seinen drei bisherigen Kinofilmen zeigte Hochhäusler dezidiert deutsche Wirklichkeiten, die durch Zuspitzungen und Stilisierung ins Unheimliche entrückt schienen. Immer wieder kreisen seine Filme um das Thema Entfremdung in gegenwärtige Arbeitswelten. In „Falscher Bekenner“ (2005) ging es um die Arbeitssuche eines Jugendlichen, der seinen Platz in der Gesellschaft, wie sie ihm von seiner Familie vorgelebt wurde, nicht finden konnte oder wollte. Also flüchtete er sich in masochistische Tagträume. Also wurde er schließlich vom falschen Bekenner zum echten Saboteur. „Unter dir die Stadt“ (2010) erzählte von Investment-Bankern, die Realitäten außerhalb ihrer Glas- und Beton-Türme und ihrer kultivierten Gesellschaftsabende nur noch als voyeuristisches Spektakel wahrnehmen konnten: Einem Junkie zahlt der Protagonist Geld, um ihm dabei zuzugucken, wie er sich einen Schuss setzt.
In „Die Lügen der Sieger“ nun ist der Protagonist, wie bei Pakula in „The Parallax View“ oder dem Watergate-Film „Die Unbestechlichen' („All the President’s Men“ (1976)), ein Journalist, der bei seinen Recherchen auf die Spur einer ganz großen Sache zu kommen scheint. Fabian (Florian David Fitz) lebt auf großem Fuß. Er fährt einen alten Porsche durch die Straßen Berlins und ist hoch verschuldet, weil er immer mal wieder in geheimen Casinos riesige Summen an den Spieltischen verzockt (ordentlich frenetisch sind die Spielszenen gehalten und offenbaren damit die Vielseitigkeit, mit der Hochhäusler sein Handwerk beherrscht). Als Macho-Arschloch bezeichnet ihn Nadja (Lilith Stangenberg) einmal, die Volontärin bei dem Nachrichtenmagazin „Die Woche“, bei dem er arbeitet (und das nicht von ungefähr an den „Spiegel“ erinnert). Nachdem seine Story über den Umgang der Bundeswehr mit Kriegsveteranen stagniert, weil sich sein Informant bedeckt hält, bekommt Fabian Nadja von seinem Chefredakteur zur Seite gestellt und soll nun mit ihr zusammenarbeiten, was den chronischen Einzelgänger zunächst mit größtem Widerwillen erfüllt.
Zunächst einfach nur, um sie irgendwie zu beschäftigen, setzt er Nadja auf die Geschichte eines Mannes an, der im Zoo in Gelsenkirchen ums Leben kam, als er ins Löwengehege sprang. Fabian kann nicht ahnen, dass sich bald ein Zusammenhang auftut zwischen der Veteranen-Geschichte und dem Toten im Zoo. Es scheint dabei um Giftmüllimporte zu gehen und Kriegstraumatisierte, die von der Bundeswehr in dubiosen Recyclingfirmen „entsorgt“ werden. Doch im Geheimen arbeitende und sich in einer PR-Agentur organisierende Lobbyisten sehen die Verabschiedung eines Gesetzes über Giftstoffrichtwerte durch die Recherchen von Nadja und Fabian in Gefahr. Sie beginnen den beiden manipulierte Informationen zu zuspielen, sodass die vermeintliche große Enthüllungsstory, die es letztlich sogar auf den Titel der „Woche“ schafft, letzten Endes zu einem großen Ablenkungsmanöver wird.
Inszenierung und Kamera sind von bestechender Eleganz. Mehr noch als in „Unter dir die Stadt“ werden die Figuren immer wieder durch spiegelnde Scheiben gefilmt, wodurch die rastlosen Bemühungen der beiden Protagonisten etwas seltsam Entrücktes bekommen. Gespräche werden oft nicht in Schuss und Gegenschuss aufgelöst, sondern die Kamera gleitet über die Gesichter der Figuren oder zwischen diesen hin und her, wobei der Fluss von abrupten Schnitten unterbrochen wird. Die Agentur, in der sich die Lobbyisten organisieren, wird in bläulichem Licht gehalten. Einmal ist ihre Büroetage von außen zu sehen, ein unheimliches Zentrum der Macht inmitten des anonymisierten urbanen Raumes. Bei einem Gespräch von einem von ihnen mit einem Minister verhindert die Lichtsetzung, dass man die Gesichter ganz erkennen kann. Die beiden werden zu albtraumhaften Schattengestalten. Während sich Fabian in seinem Auto mit einem Informanten unterhält, beschreibt die Kamera eine komplette Drehung um den Porsche herum, schließt den Protagonisten nicht nur in seinem Statussymbol ein, sondern vergegenwärtigt die Ausweglosigkeit seiner Situation, der letztlich zum Instrument ebenjener Macht wird, der er auf die Schliche zu kommen versucht.
Zur Komposition seiner Bilder wählt Hochhäusler wie immer seit „Falscher Bekenner“ das Cinemascope-Format, aber „Die Lügen der Sieger“ ist der erste seiner Filme, der in seiner Wahlheimat Berlin spielt. Belebte Innenstadtstraßen vermitteln ein Gefühl großer Anonymität, die den perfekten Nährboden für die im Verborgenen operierende Agentur zu liefern scheint. Die Atmosphäre der Paranoia, der allgegenwärtigen latenten Bedrohung, wird vor allem in einer U-Bahn-Szene verdichtet, in der Fabian von einem Unbekannten Informationen zugesteckt bekommt. Der vielleicht schönste der sorgsam ausgewählten Schauplätze ist ein Imbiss, in dem sich Fabian und Nadja betrinken. Ein Schritt zu einer Beziehung zwischen den beiden, die letztlich ins Nichts führen wird – wie ihre Suche nach der Wahrheit.
Denn als Fazit des Films steht am Ende das Zitat von Lawrence Ferlinghetti, dem der Titel entlehnt wurde: „Geschichte wird gemacht aus den Lügen der Sieger. Aber du würdest es nicht erträumen, anhand der Titel der Bücher“. Das System der Manipulation der Medien und der Einflussnahme von Interessenvertretern der Wirtschaft auf politische Prozesse ist so eingespielt, dass es schon mehr braucht als zwei engagierte Journalisten, um ihm das Handwerk zu legen. So entlässt einen „Die Lügen der Sieger“, der ästhetisch avancierteste Film im ästhetisch avancierten Werk seines Regisseurs, nicht mit einem Gefühl der Entspannung und Beruhigung, sondern mit großem Unbehagen aus dem Kinosaal.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu 'Die Lügen der Sieger'.