Wie Lichtpunkte im Dunkeln, die allmählich größer werden und zu einer kleinen Autokolonne von Jägern gehören, schälen sich die Mitglieder einer Familie im kurzen Aufscheinen der vorbeigleitenden Lichtkegel aus ihren Betten. Das Schwebende, Schweifende, Raumgreifende und Offene gehört zugleich zu den Stilmerkmalen von Alice Rohrwachers preisgekröntem Film „Land der Wunder“ (Le meraviglie), der von der renommierten französischen Kamerafrau Hélène Louvart kongenial ins Bild gesetzt wurde; und der sich leicht, fast schwerelos um mehrere Zentren, Figuren und Themen bewegt. Die Freiheit der Bewegung im Raum kontrastiert gewissermaßen die Enge in den Verhältnissen der portraitierten Familie. Entsprechend werden die idealistischen Träume einer anarchistischen Lebensweise mit den Notwendigkeiten der Alltagsrealität konfrontiert.
Alles Erzählte ist gegenwärtiges Ereignis. Was sonst noch an Vorgeschichte, Figurenkonstellationen und Handlungsmotiven im Film steckt, ist entweder implizit immer schon da oder zeigt Wirkungen in den vereinzelten Lichtpunkten und Erhebungen des flächigen Diskurses. Manchmal verliert es sich auch oder bleibt vollständig im Dunkel. Jedenfalls sind die parallelen Bewegungen der Figuren nie ganz voneinander abgekoppelt. Vielmehr wird in ihnen das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gleich auf mehreren Ebenen verhandelt.
Die Aussteiger-Ideale des chaotischen Familienvaters Wolfgang (Sam Louwyck) haben sich unter den täglichen Arbeits- und Versorgungserfordernissen längst in ein autoritäres Patriarchat verwandelt. Dessen geliebte Imkerei auf einem verfallenen Gehöft in Mittelitalien beansprucht nicht nur die ganze Arbeitskraft der Familie, zu der neben seiner duldsamen Frau Angelica (Alba Rohrwacher) und vier Töchtern auch noch die Kommunardin Cocò (Sabine Timoteo) gehört, sondern wird – neben diesen, metaphorisch gesprochen, inneren Zentrifugalkräften – auch noch von außen bedroht: durch die eingangs erwähnten Jäger, durch Pestizide und Tourismus.
In diesen weiblich dominierten Verhältnissen ersetzt die älteste Tochter Gelsomina (Maria Alexandra Lungu), die gerade ihre Unabhängigkeit entdeckt, den vom Vater vermissten Sohn. Doch Gelsomina, Mitten in den Wirren einer widerständigen Pubertät, entfernt sich bereits vom labilen Familiengefüge und einem Vater, der das nicht recht wahrhaben will. Die scheue Beziehung zu einem straffällig gewordenen Jungen, den die Familie zur Resozialisierung aufnimmt, sowie die titelgebend TV-Show „Land der Wunder“ dienen dem Mädchen dabei als Fluchtpunkte. In dieser feiern ländliche Traditionen, von Geldpreisen geködert, und von der märchenhaften Showmasterin Milly Catena (Monica Bellucci) einfühlsam moderiert, fröhlich verkitschte Urständ. Zwar sind in „Land der Wunder“ am Ende die utopischen Träume von einem besseren Leben ernüchtert, aber – so legt die zärtliche Schlusssequenz nahe – doch noch lange nicht ausgeträumt.