Man kann Asia Argentos mittlerweile dritte Langfilm-Regiearbeit leicht als rein persönliches Projekt begreifen: In 'Missverstanden' folgt die Regisseurin der neunjährigen Aria, Kind eines soziopathischen Schauspielers und einer nymphomanischen Star-Musikerin, durch einige Episoden ihrer unglücklichen Kindheit. Die vom Ruhm verblendeten Eltern lassen Aria und ihren Schwestern nur wenig Liebe angedeihen, so ist die kleine Rebellin weitgehend auf sich allein gestellt. Argento, die Tochter des italienischen Kult-Regisseurs Dario Argento und dessen Stammschauspielerin Daria Niccolodi, hat sich in Interviews schon oft über ihr problematisches Aufwachsen im Schatten des nur selten anwesenden, berühmten Vaters geäußert. Mit 14 Jahren rannte sie zum ersten Mal von zu Hause fort. 'Missverstanden' aber ist weit mehr als eine verfilmte Therapie-Sitzung der Regisseurin, sondern ein zugleich einfühlsames wie drastisches Coming-Of-Age-Drama.
Argento siedelt ihr Jugendportrait im Rom der 80er Jahre an und entwirft das zugehörige Zeitkolorit mit großem Spaß an der Verkleidung und Ausstattung: Von den stylischen Kostümen und Frisuren der jungen Hauptdarsteller bis zur Einrichtung der elterlichen Wohnung erkennt man die Liebe zum Detail, die in die Konstruktion des filmischen Universums geflossen ist. Mehr als in ihren anderen Filmen orientiert sich die Regisseurin dabei auch rein visuell an den prominenten Werken ihres Vaters: Die düstere, zugleich aber quietschbunte Wohnung, die oft einem verwunschenen Labyrinth gleicht, erinnert in ihrer märchenhaften Optik durchaus an die berühmte Ballettschule aus Dario Argentos 'Suspiria'. Vor allem dient dieser Vergleich auch zum besseren Verständnis der Erzählstrategie, die Argento in 'Missverstanden' praktiziert: Ihr Film will von Beginn an als hochgradig subjektive Annahme von Arias kindlicher Perspektive verstanden werden und distanziert sich somit deutlich von stilistischem Realismus.
Die Besetzung von Giulia Salerno als Aria ist in dieser Hinsicht ein Genie-Streich: Nicht selten sind Kinderschauspieler den Visionen der Regisseure noch nicht gewachsen, die kleine Guilia aber geht in ihrer Rolle komplett auf, obzwar ihr Argento einige emotional extreme Szenen zumutet. Da ist einerseits die von Charlotte Gainsbourg verkörperte Mutter Yvonne, die ihren Töchtern zwar alle Freiheiten der Welt lässt, aber auch immer wieder schmierige, drogensüchtige oder cholerische Liebhaber in die Familienwohnung schleppt; da ist andererseits der krankhaft abergläubische Schönling von einem Vater (Gabriel Garko), der Arias Halbschwester Lucrezia (Carolina Poccioni) wie eine Prinzessin verwöhnt, während er in Aria immer nur die mittlerweile verhasste Yvonne sehen kann. Die wüsten Beschimpfungsorgien der beiden verbitterten Elternteile muss Aria ebenso ertragen wie Alkohol- und Drogenexzesse auf den zahlreichen in der Wohnung stattfindenden Parties.
Dennoch wird 'Missverstanden' nie zur tränenziehenden Tragödie, sondern feiert ganz im Gegenteil Arias Lebensmut, Erfindungsreichtum und Furchtlosigkeit mit viel inszenatorischer Energie und Humor. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin stiftet sie in Rom allerlei Schabernack, organisiert eine Fete für die ganze Klasse und selbst als sie von beiden Eltern vor die Tür gesetzt wird, hängt sie einfach gelassen mit den Punks am Tiberufer ab. Und auch die schönen Momente mit den verschrobenen Eltern, wie etwa einen Ausflug zum Konzert der Lieblingsband, verschweigt Argento nicht. Die gelinde gesagt unorthodoxe Erziehung sorgt bei Aria ganz deutlich für einen aufgeschlossenen, lebensfrohen Charakter, der sich in der frischen Mise-en-Scène des Films widerspiegelt.
Erst im letzten Drittel nimmt der Film dann deutlich tragischere Züge an, als auch die letzten Bastionen von Arias Glück langsam wegzubrechen drohen. Mit dem ambivalenten Ende wird es die Regisseurin sicherlich nicht allen recht machen. Letztlich aber ist auch diese Entscheidung konsequent, wenn man den Film weiterhin als reine Spiegelung von Arias Perspektive versteht. 'Missverstanden' ist ein ungewöhnliches, intensives Jugenddrama mit großartigem 80er-Jahre-Flair (und Soundtrack) und stellt bisher den Höhepunkt von Asia Argentos Regie-Karriere dar.
Hier gibt’s eine weitere Kritik zu 'Missverstanden'.