Am Ende tritt sie ein, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin besteht, dass alles so weiter geht. Der Junge zieht sich im Bad selbst die Plastiktüte über den Kopf, mit der er zu Beginn seine kleine Schwester erstickt hatte, deren Leiche er hinterher in einem Autowrack „entsorgte“. Nach zwei tiefen Atemzügen reißt er sie herunter, schlurft zu seinen Eltern an den Esstisch. Die erdrückende Stille wird nur von der Aufforderung der Mutter unterbrochen, die Serviette zu nehmen. Dann ist der Film vorbei.
In der letzten Szene von Roland Klicks erstem langen Spielfilm, „Bübchen“, gibt es aus der Spießerhölle, als die die bundesrepublikanische Kleinstadt in den späten sechziger Jahren erscheint, kein Entkommen. Publikum und Kritik lehnten den Film seinerzeit beinahe einhellig ab. Die Begründung, dass der Regisseur die Verhältnisse, die er zeigte, nicht soziologisch und psychologisch deute, erscheint geradezu absurd. Lässt sich doch schwer ein Film vorstellen, dessen Kritik an der Vorstadtgesellschaft düsterer ausfällt, die zur Wahrung der heilen Fassade über (Kinder-)Leichen geht. In „Bübchen“ erscheinen nicht nur verschiedene Formen familiärer Gewalt, die vermeintlichen Träume des „Wirtschaftswunders“ enden hier auch sehr buchstäblich auf dem Schrottplatz. Noch und gerade, wenn bierselig gefeiert wird, liegt eine tief empfundene Traurigkeit über dem Geschehen, und das wahrlich beeindruckende Spiel von Sascha Urs als Titelfigur lässt den Wortsinn des Begriffs Depression erkennen: ein bedrückter Junge in bedrückenden Verhältnissen.
Roland Klick, der am 4. Juli 75 Jahre alt wurde, begründete mit „Bübchen“ 1968 seine Karriere als Filmemacher und blieb im deutschen Filmbetrieb immer ein Außenseiter. Da war auf der einen Seite das Autorenkino des „Neuen Deutschen Films“, aus dessen Reihen der Vorwurf kam, er sei zu „kommerziell“, weil er immer Filme machen wollten, die auch ein Publikum fanden. Da war aber auch der Mainstream, in dem Klick mit seinen zutiefst persönlichen Filmen, seinem unbedingten Willen, soziale Realitäten möglichst unverstellt auf die Leinwand zu bringen, nie wirklich Fuß fassen konnte. Hatte ihm Bernd Eichinger selbst vorgeschlagen, bei „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Regie zu führen, kam die Zusammenarbeit letztlich doch nicht zustande, weil die Produktionsfirma sich weder mit Klicks Drehbuch anfreunden konnte noch damit, wie er seine Darsteller_innen direkt aus der Drogenszene castete.
Vielleicht rührt von seiner eigenen Außenseiterrolle die kompromisslose Empathie für die Protagonisten seiner Filme her – Außenseiter allesamt. Seine nächsten beiden – und wohl bekanntesten – Filme handeln von Verdammten, Verlorenen, dem Tode geweihten, die sich ein letztes Mal aufzubäumen scheinen, mit allem was sie haben, ankämpfen gegen ihr längst besiegeltes Schicksal – in Filmen, die wirken wie delirante Fieberträume, neunzig Minuten lang ausgedehnte Agonien.
„Deadlock“ (1970) ist ein Western. Irgendwie zumindest. Ein „Italowestern“, der mit überwiegend deutschem Team auf Deutsch in der israelischen Wüste gedreht wurde, und (nicht nur in seiner Produktionsgeschichte) ein Film, wie es keinen zweiten gibt. Marquard Bohm, Mario Adorf und Anthony Dawson kämpfen in einem gott- und menschenverlassenen Wüstenkaff um zwei Pistolen und einen Koffer voll Geld. Betty Segal als alternde Prostituierte und Mascha Rabben als ihre wunderschöne, stumme Tochter sind bei diesen Kämpfen immer irgendwie außen vor – und müssen doch am Ende für ihre bloße Anwesenheit mit dem Leben bezahlen. Angetrieben von den hypnotisch stampfenden Klängen der Gruppe Can, bewegt sich der Film mit seiner einzigartigen Mischung aus Psychedelik, existenzialistischer Vergeblichkeit und einer Härte, wie sie typisch war für das italienische Genre-Kino der Zeit, auf den Abgrund zu. „Deadlock“ ist auch ein durch und durch physischer Film. Ein Film über Körper, die die unerbittlich brennende Sonne im Gegenlicht zu Schatten verwandelt, aus dem Bild zu tilgen trachtet. Ein Film über Gesichter. Marquard Bohms Gesicht zu Beginn, dreckverkrustet. Mario Adorfs Gesicht, über das der Schweiß in Sturzbächen rinnt, während die anderen Männer ihr grausames Spiel mit ihm treiben. Mascha Rabbens Gesicht, umweht von ihren feuerroten Haaren, mit denen der Wind spielt. So gnadenlos wie der Determinismus der Handlung und der Blick der Kamera auf das mörderische Treiben auch sind, da ist doch immer wieder eine sehr eigene Form der Schönheit, die die Trost- und Ausweglosigkeit konterkariert. Danach trachtet, den Figuren eine Würde zurück zu geben, die ihnen ihre Situation längst genommen hat.
Nach „Deadlock“ wurde Klick die Regie für einen Italo-Western angeboten. Der aber wollte sich weder von einer filmischen Strömung noch von einem bestimmten Genre vereinnahmen lassen. Stattdessen ließ er sich einmal mehr von seinem eigenen Leben zu einem Film inspirieren, bei dem er, wie schon beim Vorgänger, für Regie, Buch und Produktion selbst verantwortlich zeichnete. An der Geschichte eines jugendlichen Ausreißers, den er bei sich aufgenommen hatte, orientierte er sich bei dem Drehbuch für „Supermarkt“ (1973). Die Hauptrolle besetzte er mit Charly Wierzejewski, einem Laien, der eine ähnliche Biographie hatte, wie seine Figur. „Das Wesen von „Supermarkt“ ist das Weglaufen, das Rennen, das Sich-nicht-erwischen-lassen“, erklärte Klick, und das bedinge, dass er einen Darsteller brauche, „der wirklich rennen kann (…) und einen Kamermann, der ihm hinterherkommt.“ Tatsächlich ist es vielleicht das Zusammenspiel von dem später nach Hollywood gegangenen Jost Vacano hinter und Wierzejewski vor der Kamera, das „Supermarkt“ zu einem der schönsten Kleinodien der Geschichte des deutschen Films macht. Rastlos folgt die Kamera der Figur durch Hamburg. Zwischen Hafen, Alster und nächtlichem St. Pauli. Zwischen einem engagierten Journalisten, der ihm helfen möchte, von der Straße zu kommen, einem schmierigen Gangster, der ihn immer tiefer in seine kriminellen Machenschaften hineinzieht, und einer Prostituierten, die er „retten“ will, um mit ihr abzuhauen und sein altes Leben hinter sich zu lassen. Zwischen einer Unmittelbarkeit, einer Authentizität des gezeigten Milieus, die der Film durch die extrem agile Kamera und den Verzicht auf künstlich gesetztes Licht erreichte, und der Überhöhung des Outlaws und Outsiders, für die New Hollywood Pate stand. Die einzige extradiegetische Musik ist ein Song, dessen jaulende Gitarren Wierzejewski durch die Stadt treiben. „Celebration“ heißt er und auch der vom Regisseur selbst geschriebene Text gibt den Ton an:
„You know I want my celebration babe before I die
there’s no place were I feel bound.”
“Supermarkt” feiert das Leben, die Stadt und die Nacht – dem Ausgeschlossensein, dem Nicht-davon-kommen-können und dem Tod zum Trotz.
Wenn für Klick das Filmemachen immer auch ein großes Abenteuer war, dann bestand dieses Abenteuer in „White Star“ (1983) darin, Anfang der Achtziger einen Film mit Dennis Hopper zu drehen. Den Drehplan, so erinnert sich der Regisseur in einem Interview, gab die Kokainabhängigkeit des Stars vor, die es ihm nicht ermöglichte, mehr als zwei Stunden am Tag zu arbeiten. Hopper spielte einen skrupellosen Musikproduzenten, der versucht, einen Nachwuchsmusiker zum Star zu machen – mit allen Mitteln. Manisch agierend, wild gestikulierend, fauchend, fluchend und schreiend tut der Schauspieler dem Film, den er in einem fort an sich zu reißen versucht, keinen großen Gefallen. Ein Kritiker soll gesagt haben, „White Star“ sei der brillanteste misslungene Film, den er je gesehen hat. Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass er als West-Berlin-Film ganz wunderbar ist. Eine Szene zeigt eine Abfolge von Stadtansichten. Im Morgennebel schimmernde Straßen, bröckelnde Fassaden, spielende Kinder, die Mauer. Die Szene wurde nur in den Film eingefügt, um ihn zu strecken, aufzulockern, weil es der Zustand des Hauptdarstellers nur erlaubte, das Allernotwendigste zu drehen. Der eigentümliche Glanz, die verträumte Aura, die sie der typischen Mauerstadt-Tristesse abringt, macht sie zur schönsten des Films.
Von 1987-89 drehte Klick einen weiteren Film in Berlin, der jedoch wegen Problemen zwischen dem Regisseur und der Filmförderung nie offiziell veröffentlicht wurde. Es ist bis heute sein letzter geblieben und zugleich der einzige mit weiblichen Hauptfiguren. „Schluckauf“ ist eine Komödie über die denkbar chaotische Freundschaft, die sich zwischen einer – scheinbar – naiven jungen Frau aus der norddeutschen Provinz und einem – scheinbar – abgebrühten Berliner Model entwickelt. Ist auch „Schluckauf“ durch die widrigen Produktionsbedingungen vielleicht nicht der Film, der er hätte werden können, so entsteht doch wieder in der Zerrissenheit ein sehr adäquates Bild der geteilten Stadt. Zwischen – einmal mehr wundervoll gefilmten – Kreuzberger Straßen und Postkarten- und Werbekitsch (Rio, Segelschiff, Sandstrand), zwischen dem poetisch Verträumten und dem heillos Überkandidelten, dem Onirischen und dem Grotesken, dem Tragischen und dem Komischen liegt oft nur ein einziger Schnitt.
In der auf der diesjährigen Berlinale gezeigten Doku „Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter“ bezeichnet sich Klick selbst als einen „Regie-Junkie“. Für uns ist es jammerschade, dass er sich seit nunmehr 25 Jahren in Abstinenz übt. Darin erzählt er auch, dass er an einem Roman arbeite, aus dem vielleicht auch ein neuer Film werden könnte. Ob und wann er dieses Vorhaben realisieren kann, steht in den Sternen. Bis dahin bleiben eine Handvoll der schillerndsten, exaltierstesten und zärtlichsten Filme, die je in Deutschland entstanden sind. Das Versprechen auf ein anderes deutsches Genre-Kino, das weiterhin seiner Einlösung harrt.
Zu seinem 75. Geburtstags spendierte die Filmgalerie 451, die Klicks Filme stolz als ihr „Herzstück“ bezeichnet, dem Filmemacher, seinen Verehrern und denen, die es werden wollen, eine neue Edition seines Werks. Darin finden sich „Deadlock“, „Supermarkt“ und „White Star“, die in einer eigens angefertigten HD-Abtastung in neuem Glanz erstrahlen. Eine weitere, exklusiv in dieser Box erhältliche Disc enthält „Schluckauf“ und die vier Kurzfilme, die Klick in den Sechzigern drehte. Dazu gibt es noch „The Heart is a Hungry Hunter“. Das üppige Zusatzmaterial bietet unter anderem Audiokommentare und Interviews zu allen Filmen. Ist es immer eine Freude, Klick erzählen und stellenweise über das Erzählte in Gelächter ausbrechen zu hören, bildet das klare Highlight wohl ein vierzig-minütiges Gespräch aus den späten Neunzigern, in dem sich Klick und Jost Vacano über „Supermarkt“ unterhalten. Mit unbändiger Leidenschaft vorgetragen, kann man hier sehr viel – nicht nur – über die technische Seite des Filmemachens erfahren. Abgerundet wird die Edition mit einem sehr schön gestalteten Booklet, das allerlei historisches Text-Material sowie eine ausführliche Biographie und Filmographie bietet.
Dass diese so liebevolle wie sorgfältige Edition nicht ganz vollständig ist (es fehlen neben dem Debüt der 1975 entstandene „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ und die abendfüllende Doku „Derby Fever USA“), ist sehr bedauerlich, hat aber lizenzrechtliche Gründe. Abhilfe schafft zum Beispiel eine Retrospektive, die im Berliner Lichblick-Kino ab dem 19. Juli zwei Wochen lang das Gesamtwerk zeigt.