Das Ende des Kinos verkündete Jean-Luc Godard bereits 1967 am Ende seines Films „Weekend“. Eher den Tod als das Ende des Kinos zeigt Paul Schrader 2013 am Anfang seines achtzehnten Films „The Canyons“. Im Vorspann sind überwiegend schwarz-weiße Bilder von leer stehenden, verfallenden Filmpalästen zu sehen. Verrammelte Tore, zerfallende Leuchtreklamen, die zerbrochenen Scheiben der Schaukästen, zerschlissene Sitze.
Paul Schrader wurde 1946 in einer Kleinstadt in Michigan geboren. Aufgrund der Regeln seines streng calvinistischen Elternhauses besuchte er erst mit siebzehn zum ersten Mal ein Kino. Nach dem Studium und einer Tätigkeit als Filmkritiker begann er Drehbücher zu schreiben. Eines davon, „Taxi Driver“, wurde von Martin Scorsese mit so großem Erfolg verfilmt, dass es Schrader die Möglichkeit gab, eine eigene Regie-Karriere zu beginnen. Travis Bickle, der Protagonist des Films, kann zugleich als Prototyp der Schrader-Figur gesehen werden. Seine (Anti-)Helden sind einsame Männer mit einer Mission, die in einer kalten, feindlichen, meist großstädtischen, oft in grelles Neon-Licht getauchten Welt nach Erlösung suchen. Sie finden sie selten, aber manchmal immerhin das Versprechen, dass sie möglich sein könnte. Vor dem Hintergrund dieses „Monomythos“ schwinden soziale und historische Unterschiede. Ob die Schrader-Männer Fabrikarbeiter sind, die versuchen, privates Glück und Klassenkampf in einen Blaumann zu kriegen („Blue Collar“), in den dunkelroten Abgründen der Spät-Siebziger-Porno-Industrie nach ihrer Tochter suchen („Hardcore“), sich prostituieren („American Gigolo“), „weißen Menschen weiße Drogen verkaufen“ („Light Sleeper“) oder versuchen, Dämonen auszutreiben („Dominion: Prequel to the Exorcist“), ob die Filme im Detroit der Siebziger, dem Los Angeles der Achtziger oder dem New York der Neunziger spielen, hat wesentlich weniger Bedeutung, als man annehmen könnte. So transzendieren seine Filme auch immer wieder die Produktions- und Vermarktungszusammenhänge, in denen sie stehen: Noch ein Exorzisten-Prequel wird unter Schraders Regie zu einem befremdlich bunten und erstaunlich ernsthaften „Autorenfilm“ über Traumata, Schuld und Glaubenskrisen (der mit Schraders „Cat People“-Remake von 1982 sicher mehr gemein hat, als mit dem – ohnehin denkbar zerfaserten – Franchise, dem er vordergründig angehört).
Das Kino scheint für Paul Schrader sein Leben lang ein „verbotener“ Ort geblieben zu sein, ein Ort der dunklen Versuchungen und Verheißungen. Und einer, an dem man sich seinen Dämonen stellen muss, um Erlösung zu erlangen. (Dass man nie genau weiß – sicher verhält es sich von Film zu Film etwas anders – ob die zu exorzierenden Dämonen nun die der „sündigen“ urbanen Welt oder doch eher die der eigenen ultrareligiösen Erziehung sind, trägt sicherlich einiges zur Faszination seiner Filme bei, die immer etwas merkwürdig, etwas entrückt wirken).
Um den Kampf mit – weitgehend säkularisierten – Dämonen geht es auch im Werk des Schriftstellers Bret Easton Ellis, von dem das Drehbuch zu „The Canyons“ stammt. Seine Bücher handeln von den Schönen und Reichen, die versuchen, die Leere ihres Lebens mit jeder Menge Sex, allerlei Drogen und brachialer Gewalt zu füllen. In seinem metafiktionalen Roman „Lunar Park“ bekommt es ein Schriftsteller namens Bret Easton Ellis mit seinen eigenen Schöpfungen zu tun, mit depressiv-lethargischen upper class-Teenies und Armani tragenden Serienkillern also – und – noch viel schlimmer – mit dem eigenen Vater, der, über seinen Tod hinaus, das Leben seines Sohnes fest im Griff zu haben scheint.
Die Grundkonstellation von „The Canyons“ ist eigentlich ganz einfach: Zwei Männer sind besessen von derselben Frau (das Wort „Liebe“ wird von den Figuren zwar fast inflationär verwendet, scheint aber von außen betrachtet eher unpassend zu sein, und auch mit dem Begehren ist es so eine Sache in diesem Film.) Das heißt allerdings nicht, dass das dicht gesponnene Netz aus Affären, Intrigen, Lügen und Eifersucht um diesen zentralen Konflikt herum, die anderen Männer und Frauen, die mehr oder weniger kleine Rollen darin spielen, nur überflüssiges Beiwerk wären. Ganz im Gegenteil: als Surrogate für und Vermittler zwischen den drei Hauptfiguren sind sie unverzichtbar. Es bedarf anderer Menschen, die mitintrigieren, mitlügen und mitvögeln, um das denkbar dysfunktionale Beziehungsdreieck voranzutreiben – auf den Abgrund zu.
Der eine Mann, Christian, ist eine typische Ellis-Figur: Ein Filmproduzent, reich, arrogant, zynisch, chronisch gelangweilt, promiskuitiv, bisweilen extrem grausam und mit stark ausgeprägtem Vater-Komplex. Dass er gespielt wird von Porno-Darsteller James Deen ist der erste wichtige Besetzungscoup dieses Films. Einmal beschwert sich Christian bei seinem Therapeuten Dr. Campbell (Gus van Sant in einem Cameo), dass er immer nur schauspielert, sein Leben lang nur verschiedene Rollen spielt. Das heißt nicht, dass er einen Ausweg sucht aus den ewigen Inszenierungen von Identität und Begehren. Er möchte einfach nur auf die andere Seite der Kamera, inszenieren statt zu spielen. „It’s a guy thing. Power and control.“ Die Kontrolle, die ihm mehr bedeutet als alles andere, verliert er nur ein einziges Mal: In der frenetischsten Szene des Films haben er und seine Freundin Tara (Lindsay Lohan) Sex mit einem anderen Paar. In der Discobeleuchtung seines Schlafzimmers verschwimmen die Körper, (Kamera-)Bewegungen und Lichter zu einem einzigen Rausch der digitalen Sleaze-Bilder. Tara fordert die beiden Männer auf, sich zu küssen, den anderen Mann dazu, Christian einen zu blasen. Was ihn in seinem Innersten erschüttert, ist nicht der Zusammenbruch seiner heterosexuellen Performance, sondern eben der Kontrollverlust, die Tatsache, dass er hier nicht mehr Subjekt, sondern Objekt von Inszenierung und Begehren ist. Dafür wird er bitterliche Rache nehmen.
Der andere Mann, Ryan, ist vielleicht das, was von einer typischen Schrader-Figur übrig ist, so wie „The Canyons“ das ist, was vom Schrader-Kino übrig ist (eine 150.000-Dollar billige Produktion mit einem heruntergekommenen Hollywood-Sternchen und einem Porno-Darsteller in den Hauptrollen – von einem Mann, der einst an den Rändern des Hollywood-Mainstreams Filme mit Willem Dafoe, Richard Gere und Susan Sarandon drehte). Er bezeichnet sich zu Beginn als „morally conventional guy“. Dass das reine Fassade ist, zeigt sich schon daran, dass ihn seine Ex wesentlich mehr interessiert als seine derzeitige Freundin, die wohl die moralisch und emotional intakteste Person dieses Films ist. Eigentlich will er nichts, außer seiner prekären Lebenssituation zu entkommen – und er will Tara. Mit ihr hatte er eine Beziehung, bevor sie Christian kennen lernte. Wieder getroffen haben sie sich bei dem Casting eines kleinen Slasher-Films, den Christian produziert und in dem er die Hauptrolle spielen will. Seitdem treffen sie sich wieder – heimlich, aber regelmäßig. Tara hat dafür gesorgt, dass er die Rolle bekommt, die seine letzte verzweifelte und wahrscheinlich trügerische Hoffnung auf den sozialen Aufstieg ist. Um seine Ziele zu erreichen und sich vor dem endgültigen Bankrott zu bewahren, schläft er auch schon mal mit Männern.
Schließlich Tara, die Frau zwischen den beiden Männern. Mit Christian ließ sie sich ein, weil sie die genug hatte vom Leben am Existenzminimum mit Ryan. Der Film denunziert das ebenso wenig wie das Verhalten der Männer. Sie ist die tragischste Figur, weil sie die Entbehrungen der Armut ebenso kennt wie die frustrierende Leere des Daseins in einer Villa in Malibu. Lindsay Lohan ist die perfekte Schauspielerin für diese Rolle. Nicht nur weil ihr der exzessive Lebenswandel so deutlich ins Gesicht – und auf den Körper – geschrieben steht, sondern auch weil sie eine der vielen ist, die am Erfolg gescheitert sind. Auf Ryans Bemerkung, dass sie nicht glücklich ist, erwidert sie: „Who said anything about happiness?”
Inszenatorisch knüpft der Film durchaus an Schraders bisheriges Schaffen an. Wenn die Kamera elegant durch die sonnendurchfluteten Straßen und Einkaufspassagen von Los Angeles, durch finstere Flure und Treppenhäuser gleitet, mutet „The Canyons“ wie eine No-Budget-Version seiner Neo(n)-Noir-Thriller vergangener Dekaden an. Inhaltlich jedoch ist er ein Ellis-Film durch und durch. Wo bei Schrader am Ende noch das Erlösungsversprechen wenn schon nicht erfüllt, dann doch zumindest aufrecht erhalten wurde, enden Ellis-Romane mit Sätzen wie „No Exit“ oder „I never liked anyone and I’m afraid of people.“
Die Parallelen vom Film zum Werk des Schriftstellers gehen weit über die Darstellung der Kommunikations- und Beziehungsunfähigkeit innerhalb eines bestimmten Milieus hinaus. Die Art etwa, wie die öffentlichen Persona der Darsteller in den Figuren mitgedacht werden, wie der Film selbst Zeugnis des Niedergangs der Filmindustrie ist, den er behandelt, erinnert an die metafiktionalen Versuchsanordnungen von Ellis‘ letzten beiden Romanen.
Selbst der Niedergang des Kinos ist mindestens so sehr ein Ellis- wie ein Schrader-Thema. Die sieben Bücher, die der Autor zwischen 1985 und 2010 geschrieben hat, liefern nicht zuletzt ein Stück Medien- und Technologie-Geschichte – von einer Zeit, in der MTV und VHS der „heiße Scheiß“ waren in eine, in der die Ellis-typische Nicht-Kommunikation überwiegend per iPhone stattfindet. Der Subtext über den Tod des Kinos geht in „The Canyons“ einher mit dem Zeigen der neuen Medien, die es ersetzen. Facebook-Accounts werden gehackt und SMS geschrieben, gechattet wird auch mal per Smart-TV und eine Szene spielt in der gigantomanischen DVD-Abteilung eines Supermarkts.
Der Film ist durchzogen von Zwischentiteln, die vor den Bildern der toten Kinos Wochentage anzeigen: Von Montag bis Donnerstag erstreckt sich seine Handlung. Das Unfertige, das dadurch vermittelt wird, ist bezeichnend. Vordergründig wirkt die letzte Szene, einige Jahre nach dem Geschehen des Films angesiedelt, wie ein klassischer Epilog. Dieser zeigt jedoch nur, dass hier nichts wirklich zu Ende ist, dass das Spiel der Figuren, die niemals zueinander finden können, und es gerade deshalb ewig versuchen müssen, nicht abgeschlossen und nicht abschließbar ist. Ihr emotionales Zombie-Dasein geht weiter, wie das Sterben des Kinos – im Abspann.
Die Vorstellung von „The Canyons“ als Wegweiser in die Zukunft eines Kinos – und sei es auch nur eines bestimmten Segments davon – das sich post mortem immer weiter an den gleichen kaputten Beziehungen, den gleichen neurotischen Fixierungen abarbeitet, ist natürlich ziemlich schrecklich. Für sich genommen aber, als eiskaltes, von gleißendem Licht durchflutetes und doch nachtschwarzes Melodram Infernal ist er ein rohes Kleinod von einem Film.
Dass ein Film wie „The Canyons“ keine Chance auf eine deutsche Kinoauswertung hat, ist so traurig wie selbstverständlich. Immerhin liegt er jetzt, ein gutes halbes Jahr nachdem er auf dem Filmfestival in Venedig lief, bei NEW KSM auf DVD und Blu-ray vor. Wählen kann man zwischen deutschem und englischem DTS HD-Mehrkanalton, deutsche Untertitel gibt’s auch. Das spärliche Bonus-Material besteht aus einem sechsminütigen Behind The Scenes-Featurette, das sich als Werbe-Clip für die sozialen Netzwerk-Auftritte des Films und seiner Beteiligten entpuppt, einem Trailer und einer Bildergalerie.