Einmal besucht der Inuit Nanuk mit seiner Familie die Handelsstation, das „große Iglo des weißen Mannes“. Ein Händler führt ihm ein Grammophon vor, jene sonderbare Apparatur, mit der der weiße Mann seine Stimme „einfängt“. Ungläubig und verwundert zunächst, dann sichtlich belustigt beäugt Nanuk das Gerät von allen Seiten, geht mit dem Ohr ganz nah heran an den Lautsprecher. Als ihm sein Gegenüber erklärt, dass das, was er hört, auf den Platten gespeichert sei, mustert er diese eindringlich. Auf der Suche nach der Lösung dieses für ihn undechiffrierbaren Rätsels beißt er sogar hinein. Diese Szene kann in mehrfacher Hinsicht als Schlüsselszene von „Nanuk“, dem ersten Film des „Vaters des Dokumentarfilms“, Robert Flaherty, aufgefasst werden. Zum einen dreht Flaherty hier das Verhältnis des westlichen Blickes auf die Inuit, das ja schon in der Entstehungsgeschichte des Films festgeschrieben ist, ein Stück weit um. Das Fremde und Befremdliche ist hier nicht der „Eskimo“, sondern jenes Artefakt einer Zivilisation, von der er räumlich und kulturell kaum weiter entfernt sein könnte. Zum anderen aber – und vielleicht noch wichtiger – nähert sich in dem Film die Kamera, jene andere sonderbare Apparatur, mit der der weiße Mann das Bild des Menschen einfängt, seinem Protagonisten so, wie dieser sich dem Grammophon: respektvoll, fasziniert und vor allem überaus neugierig.
Flaherty hatte in der ersten Hälfte der 1910er Jahre mehrere Forschungsreisen in die kanadische Arktis unternommen, auf denen unter anderem Filmmaterial entstand, das sich mit dem Leben der Inuit befasste, teilweise die einzigen Begleiter auf seinen Expeditionen. Dieses Material verbrannte jedoch nach dem Schnitt in Toronto. Flaherty beschloss eine weitere Reise in den Norden zu unternehmen, nun mit dem einzigen Ziel einen Film zu drehen, der anhand einer Familie, bestehend aus Nanuk, der eigentlich Allakariallak hieß, seiner Frau Nyla und ihrer Kinder, das Leben der Eskimos portraitieren sollte. Die Aufnahmen zu „Nanuk“, der 1922 der erste Dokumentarfilm in abendfüllender Länge war und als Pionierarbeit des ethnologischen Films gilt, entstanden in den Jahren 1920 und 1921.
Auch wenn die Zwischentitel sich sichtlich bemühen, die Hauptfigur zum Helden zu stilisieren, auch wenn die Geschichte vom Überlebenskampf im ewigen Eis – eher lose – in eine Narration eingebunden wird, das hauptsächliche Anliegen des Films bleibt doch der unvoreingenommene Blick auf das alltägliche Leben der Inuit: Darauf, wie sie jagen, essen, spielen und ihre Iglos bauen (übrigens: dass es innerhalb der Iglos für die Eskimos „warm“ ist, weil darin die Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt, also etwa 30 Grad über denen außerhalb liegen, war bei mir irgendwie aus dem Grundschul-Erdkunde-Unterricht hängen geblieben. Wie aber das Iglo mit Schnee, der in der Arktis in etwa die Konsistenz von Sand hat, verputzt wird, und dass es in ihm auch Fenster aus Eisplatten gibt, gehört zu den faszinierenden Details, von denen es in „Nanuk“ viele zu entdecken gibt.)
Die schwierige Gratwanderung, die dem Film nicht nur gelingt, sondern die er auch wie eine Leichtigkeit aussehen lässt, ist die, dem Leben in der Arktis eine poetische, immer wieder atemberaubende Schönheit abzugewinnen, ohne es dadurch zu verklären. So vermeidet Flaherty auch die beiden Extreme des westlich-kolonialistischen Blickes auf das Andere. In „Nanuk“ sind die Inuit weder bösartig, „primitiv“ und „dumm“, noch werden sie zu „Guten Wilden“ verklärt, deren Leben als Projektionsfläche für die Paradies-Phantasien zivilisationsmüder Okzidentalen herhalten könnte. Bei allen kulturellen und „zivilisatorischen“ Unterschieden zum Zielpublikum des Films sind sie in erster Linie Menschen. Menschen, die sich nicht so sehr im Einklang wie im ständigen Kampf mit einer unerbittlichen Natur befinden. Die weite Reisen auf sich nehmen müssen, auf der Suche nach Nahrung, gepeinigt von peitschenden Polarwinden, die das Erreichen des rettenden Iglos unmöglich machen können. Der Film findet für diesen Kampf ein eindrucksvolles Bild, das zugleich ein schönes Beispiel ist, dafür wie in „Nanuk“ das Dokumentarische über einen allzu platten Symbolismus siegt: Nanuk jagt eine große Robbe, die als Säugetier ja immer wieder Luft holen muss. An einem Loch im Eis, an der sie das tut, lauert er ihr auf. Wir sehen nun Nanuk, in dieser Szene wie in vielen anderen ein grauschwarzer Fleck im ewigen Weiß der Umgebung, minutenlang beim erbitterten Kampf mit seiner für uns unsichtbaren Beute unter dem Eis.
Hieraus wird der große Jäger und wohl bekannteste Eskimo der Filmgeschichte als Sieger hervorgehen. Der „echte“ Allakariallak jedoch ist wenige Jahre nach der Entstehung des Films auf der Jagd verhungert (so will es zumindest Flaherty, laut anderer Quellen starb er an Tuberkulose). „Nanuk“, der erste ethnologische Dokumentarfilm, setzt ihm ein Denkmal und macht zugleich in seinem unvoreingenommenen und bewertungsfreien Umgang mit Alterität ein Versprechen, das in den letzten neun Jahrzehnten vom Genre nur selten eingelöst wurde.
Der Film liegt seit 24. Januar bei absolut Medien komplett neu überarbeitet auf DVD vor. Auch wenn die neue HD-Abtastung das Alter des Materials kaum verbergen kann, ist die Bildqualität doch alles in allem exzellent. Zu den englischen Zwischentiteln gibt es wahlweise deutsche oder französische Untertitel. Als Bonus findet sich ein Fernseh-Interview, in dem Robert Flahertys Witwe Francis in den Fünfzigern über „Nanuk“ spricht. Sie betont, das Flaherty, der jahrelang unter den Inuit lebte, sie nicht nur sehr gut kannte, sondern auch liebte. Außerdem gibt es einige interessante Gedanken zu den Filmen ihres Mannes, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst liegen, der nicht nur die Menschen, von denen seine Filme handelten, sondern auch die Kamera immer weiter erforschen musste. Mit einer Bildergalerie, die Fotos aus einer Expeditionsmappe zeigt, und Arktis-Aufnahmen von 1914 wird das für einen Film dieses Alters erfreulich umfangreiche Zusatzmaterial abgerundet. Bleibt als einziges kleines Manko einer ansonsten rundum gelungenen Veröffentlichung die, dem Sprichwort nach ja zuletzt sterbende Hoffnung, dass man auch bei absolut Medien das mit den Wende-Covern irgendwann lernt.