1963 sagte Maurice Ronet in Louis Malles Film „Le feu follet“: „Die Sache ist, ich kann meine Hände nicht ausstrecken und zupacken. Ich kann die Dinge nicht berühren. Und wenn ich sie doch berühre, fühle ich nichts.“ Ronet spielte Alain, einen Mann, der wegen seiner Alkoholabhängigkeit in einer Klinik behandelt worden war. Der Film folgte ihm einen Tag lang durch Paris. Um die Versuchungen des alten Lebens und der großen Stadt – der Barkeeper, der ihm ganz selbstverständlich hinstellt, was er immer getrunken hat, die beiden Männer, denen er etwas zu trinken ausgibt, weil sie ihm einen Gefallen tun, und die ihn auffordern, mitzutrinken – ging es dabei gerade nicht. Sondern um einen Mann, der verzweifelt nach Halt sucht, der versucht dem Leben und der Liebe und der Stadt etwas abzufühlen, die Dinge und Menschen zu berühren und sich von ihnen berühren zu lassen. Am Ende setzte er sich eine Pistole auf die Brust und drückte ab.
2011 hat der norwegische Regisseur Joachim Trier den Roman von Pierre Drieu la Rochelle, der schon Malle als Vorlage diente, neu verfilmt. Alain heißt jetzt Anders (Anders Danielsen Lie) und er konsumierte in seinem früheren Leben nicht nur Alkohol, sondern alle erdenklichen Drogen. Aus der eher dubiosen Klinik bei Malle ist bei Trier eine spezielle Entwöhnungsklinik für Suchtkranke geworden, aus einem 22. Juli der frühen 1960er ein 30. August der frühen 2010er und aus Paris Oslo.
Am Anfang unternimmt Anders einen halbherzigen Suizidversuch im Fluss. In der morgendlichen Gruppentherapiesitzung erfahren wir, dass er zwei Wochen vor dem Abschluss seiner einjährigen Therapie steht, und einen Tag Ausgang bekommt, weil er ein Vorstellungsgespräch in der Redaktion eines Kulturmagazins hat. Zunächst fährt Anders zu einem alten Freund, der inzwischen mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern zusammenlebt. Der ist, unter der heilen Oberfläche, ziemlich frustriert von seinem neuen Leben. Dass Anders, der sich selbst dem Freund gegenüber als 33-jährigen Loser bezeichnet, sich verbaute, was der Freund hat, scheint jedoch gar nicht das Schlimmste zu sein. Sondern eher, dass es ihm so wenig erstrebenswert erscheint. Nicht um das Nichts-Haben, sondern um das Nichts-Haben-Wollen geht es.
Dass das Bewerbungsgespräch zu einem Fiasko wird, liegt hauptsächlich an Anders selbst. Abends geht er auf den dreißigsten Geburtstag von Monica, einer alten Freundin, mit der er vor Ewigkeiten eine Affäre hatte. Er beginnt zu trinken. Auf dem Weg in einen einschlägigen Club fährt er bei seinem Dealer vorbei und kauft sich ein Gramm Heroin. Er feiert die Nacht durch. Das Mädchen, das er dabei kennenlernt, lässt er morgens irgendwo zurück. Am Ende setzt er sich eine Nadel an die Vene und drückt ab. Die letzten Einstellungen des Films zeigen, eine Anspielung auf das berühmte Ende von Michelangelo Antonionis „L’eclisse“, die Orte in Oslo, an denen sich Anders vorher aufgehalten hat. Jetzt leer, ohne ihn.
„Oslo, 31. August“ ist Triers zweiter Film, nach seinem vielgelobten Debüt „Reprise“ von 2006, in dem es um die Höhen und Tiefen, die Irrungen und Wirrungen im Leben zweier junger Schriftsteller in Oslo ging. Thematisch scheint der zweite Film relativ nahtlos an den ersten anzuknüpfen. Wieder geht es um das (Nicht-)Erwachsenwerden, um Entfremdung, Sinnsuche und (psychische) Krankheit. Anders Danielsen Lie spielte schon dort eine Hauptrolle. War aber „Reprise“ ein Film, der mit Formen, Erzählsträngen und Zeitebenen spielte und experimentierte, ist „Oslo, 31. August“ wesentlich zurückgenommener, konzentrierter, geradliniger. Einerseits natürlich in der inhaltlichen Beschränkung auf eine Figur, eine Stadt, einen Tag. Andererseits aber auch formal. Eine relativ ruhige Handkamera folgt Anders auf seinem Weg durch Oslo. Zwischendurch gibt es Ansichten der Stadt in klar komponierten Totalen. Trier ist ein kluger Ästhet, der weiß, dass die Form dem Inhalt dieses Films umso besser entsprechen kann, je mehr sie sich zurück hält, je weniger sie auf sich selbst aufmerksam macht, und sich ganz aufs leicht distanzierte Beobachten konzentriert. An die Stelle des ewigen Konjunktivs in der Erzählung von „Reprise“, der vieles nur als Möglichkeit anbot, wie es gewesen sein könnte, ist, auch wenn der Film paradoxerweise über weite Strecken sonderbar sanft erscheint, ein recht grimmiger Determinismus getreten.
Filmhistorischer Referenzpunkt ist für Trier in beiden Filmen der klassische europäische Autorenfilm. Erinnerte aber „Reprise“ mitunter – vor allem am Schluss – an Godard in seinen verspieltesten Momenten (also „Une femme est une femme“), kommt in „Oslo“ zu Malles melancholischem klavierbegleitetem Weltschmerz der kalte Existenzialismus eines Antonioni.„Oslo, 31. August“ verzichtet radikal auf gängige psychologische oder soziologische Erklärungsmuster für die Sucht seines Protagonisten. In einer Szene schildert Anders aus dem Off in kleinen Details und großen ideologischen Bögen seine Familie. Intakt, links-liberal, bürgerlich. Dazu gibt es Bilder von aufgeräumten, sauberen, sonnenbeschienen Osloer Straßen und Parks. Mitnichten behauptet der Film, Anders wäre nicht zu helfen. Von Anfang an ist relativ klar, dass er sich nicht helfen lassen wird, dass er nicht imstande ist, Hilfe anzunehmen. Bei dem Vorstellungsgespräch erzählt er auf die Frage nach seinem beruflichen Werdegang nach einigem Rumdrucksen von seiner Drogenabhängigkeit. Sein Gegenüber reagiert eigentlich denkbar cool. Weder abwertend oder herablassend noch übertrieben mitleidig, sondern mit so viel echter Empathie, wie die Situation eben zulässt. Trotzdem bricht Anders das Gespräch abrupt ab, rennt raus und feuert seine Bewerbung wutentbrannt in den nächsten Mülleimer. Die Hand anzunehmen, nach der er zuvor geschrien hat, scheint für ihn letztlich keine Option zu sein. Besonders deutlich wird das auch in seiner Beziehung zu Frauen. Den ganzen Film über versucht er, seine Ex-Freundin zu erreichen, hinterlässt eine Nachricht nach der anderen auf ihrer Mailbox. Mit Monica, die inzwischen seit Jahren in einer festen Beziehung lebt, versucht er mit einem flüchtigen Kuss dort anzuknüpfen, wo sie vor Ewigkeiten aufgehört hatten. Auch hier wird er abgewiesen. Die diversen, ihm zugeneigten Disko-Bekanntschaften am Ende sind ihm hingegen völlig gleichgültig. Er klopft lieber an verschlossene Türen, statt durch offene zu gehen. Allein ihre Verfügbarkeit reicht, um die Dinge und Menschen für ihn langweilig zu machen. Wenn die erste Einstellung von Oslo, aus dem Taxi heraus, das Anders in die Stadt bringt, eine Stadt im Umbruch zeigen, eine Stadt der Baukräne und in den Himmel wachsender Hochhäuser, dann setzt der Film schon hier seine Hauptfigur, die nicht wirklich zur Veränderung fähig scheint, gegen einen sich ständig verändernden Schauplatz der Erzählung.
Diese Verweigerungshaltung macht sich auch der Film – zumindest teilweise – zu eigen. Auf eine klare Haltung zu seiner Figur verzichtet er konsequent. Wir haben sicherlich keinen Grund, Anders zu hassen, wie es einige Menschen aus seiner Vergangenheit offenbar tun, denen er im Laufe des letzten Tages seines Lebens begegnet. Es gibt aber auch nichts, wofür man ihn sonderlich lieb gewinnen könnte. Der Film erzählt seine Geschichte mit viel Empathie, allerdings bleibt relativ unklar – vielleicht ist das gerade das Schöne daran –, warum der Protagonist sie nun verdient haben sollte.
Kurz: „Oslo, 31. August“ lässt einen etwas ratlos zurück. Jedoch ist gerade diese Ratlosigkeit dem beharrlichen Erklären und eindeutigen Standpunktbeziehen vieler anderer Drogen-Dramen haushoch überlegen.
2013, also zwei Jahre nachdem er in Cannes in der Nebenreihe Un Certain Regard lief, bekam der Film in Deutschland eine – winzige – Kinoauswertung. Seit 10. Januar liegt er von absolut MEDIEN auf einer – leider etwas schlicht geratenen – DVD vor. Sie bietet den Film in norwegischem Originalton (wahlweise in 2.0 oder – sehr empfehlenswertem – 5.1 ) mit deutschen und französischen Untertiteln, sonst nichts. Und, ach ja, seitdem seit einigen Jahren die Front-Cover deutscher DVDs mit den neuen riesigen FSK-Flatschen verunstaltet werden, freuen sich die Ästheten unter den DVD-Sammlern über Wende-Cover. Auch ein solches sucht man hier leider vergeblich. Dafür sind Bild und Ton hervorragend.