„The Young Person’s Guide to the Orchestra“ von Benjamin Britten: Auf einem hellblauen, batteriebetriebenen, knarzenden Taschenplattenspieler läuft das Stück, das die einzelnen Instrumente des Orchesters vorstellt und das Entstehen der Harmonien erklärt.
Wes Anderson lässt seine Kamera dabei durch das Haus der Familie Bishop gleiten, in gleichmäßiger Parallelfahrt, durch alle Zimmer, über alle Stockwerke: gleich zu Anfang von „Moonrise Kingdom“ eine typische Anderson-Einstellung, der Film wird zum Gang durch ein Puppenhäuschen, das wie eine mehrstöckige Theaterbühne als Spielplatz für den Regisseur dient. Immer im Blick dabei: Suzy Bishop, die mit ihrem Fernglas direkt in die Kamera schaut, in die Ferne späht. Oder die ihre Nase in eines ihrer Abenteuerbücher steckt.
Eine solche Panoramafahrt durch ein aufgeschnittenes Haus, in das die Filmfiguren nach Gutdünken hingestellt sind – selbstverständlich unter strengen ästhetischen Gesichtspunkten, die Standort, Körperform, Raumaufteilung, nicht zuletzt die Farben beinhalten –, ist ein Markenzeichen von Wes Andersons filmischer Ästhetik; in „Moonrise Kingdom“ wird er sie durch diverse weitere Parallelfahrten, Rundumschwenks oder Totalen ergänzen: Ob nun Scout Master Ward seinen morgendlichen Gang an diversen Pfadfindern vorbei zum Frühstückstisch antritt, ob sich auf weiter Wiese Suzy und Sam treffen, um gemeinsam aufzubrechen, ob sie in weitem Rundumblick die paradiesische Umgebung von Wald und Küste sondieren: Stets gibt Anderson einen Gesamtüberblick, um zugleich die Künstlichkeit des filmischen Arrangements aufzuzeigen und das Zusammenspiel der einzelnen Bildelemente – gerade so, wie Benjamin Britten Streicher, Bläser und Schlagwerk vorstellt, in Einzelteilen, aber gemeinsam.
Ein Wes Anderson-Film ist im Grunde stets auch ein filmgewordenes Seminar über filmisches Sein und filmisches Wirken: Jedes Einzelelement wird betont, wird dabei völlig gleichwertig behandelt, und gleichzeitig wird das Bewusstsein geschaffen vom perfekten Zusammenklang, davon, dass das Ganze stets noch viel größer als die Summe von ohnehin außergewöhnlichen Einzelteilen ist. Andersons Filmtechnik ist die des Mosaiks: das aus vielen Bestandteilen besteht, die auch alle sichtbar sind, und die zugleich in ihrer Gesamtheit ein Bild ergeben.
Ein Bild, das bei Anderson auf jeden Fall symmetrisch wäre, auf jeden Fall mit leuchtenden Farben gestaltet – im Fall von „Moonrise Kingdom“ bevorzugt ein warmes Gelb –, das auf jeden Fall künstlich, gar skurril wirken würde, damit durchaus übertrieben – und dabei ganz lebensecht, in seiner hyperbolischen, überdrehten Art authentisch im nicht-fotorealistischen Sinn. Dass der Film von einem Erzähler (Bob Balaban) präsentiert wird, der einerseits im Rückblick kommentiert, andererseits ganz gegenwärtig anwesend ist in der Filmhandlung, ist fast schon ein selbstverständliches Detail.
Auf diese Weise erzählt Anderson seine Geschichte von einer großen Liebe – so ernsthaft, wie man nur sein kann, ohne ins Melodramatisch-Sentimentale zu rutschen, und so komisch, wie man nur sein kann, ohne eine der Figuren oder gar den Zuschauer vor den Kopf zu stoßen.
Sam liebt Suzy. Ihre erste Begegnung: Eine Auffühung von Benjamin Brittens „Noye’s Fludde“, die Noah-Geschichte mit einer Menge Tiere auf einer Bühne in der örtlichen Kirche. Sam büchst aus, blickt hinter die Kulissen – ein weiterer dieser langen andersonschen Kameragänge –, bis er hinter einem Kleiderständer hervorlugt und die als Vogel gekleideten Mädchen sieht. „Was bist du für ein Vogel?“ – „Ein Rabe.“ Damit ist die Liebe besiegelt.
Ein Jahr später büxen die beiden aus. Sam aus seinem Pfadfinderlager, Suzy aus ihrem Elternhaus, sie wollen in der Wildnis leben, gemeinsam, als Liebespaar: sie sind beide zwölf Jahre alt. Die Eltern – Bill Murray und Frances McDormand –, der Pfadfinderlagerleiter – Edward Norton –, der örtliche Sheriff – Bruce Willis – drehen hohl: wo sollen sie suchen auf dieser Insel, auf New Penzance, immerhin 25 Kilometer lang, vor Rhode Island gelegen? Die Flucht und das Verborgenbleiben, die Suchaktion von Polizei und Pfadfindern, der Druck, den Jugendamt (Tilda Swinton – ja: „Jugendamt“, das ist ihr Name!) ausübt: Das ist schon eine Menge Handlung, die Anderson noch anreichert durch eine Affäre zwischen Mrs. Bishop und dem Sheriff Captain Sharp und durch die angedeuteten Schwierigkeiten, die die Kinder stets bereiteten.
Sam wie Suzy gelten als schwer erziehbar, als unnormal, als emotional gestört. Sam wird von seinen Pflegeeltern per Telefonanruf verstoßen. Für den Umgang mit Suzy suchen die Eltern ein Rezept in schwarz eingeschlagenen Ratgeberbüchern. Was die beiden anderen antun? Es wird nicht gezeigt. Es wird nur im Briefwechsel angedeutet, den die beiden über ein Jahr lang miteinander führten: Lehrerin anschreien, schlafwandelnd ein Feuer legen, malen – unter anderem nackte Mädchen, Tobsuchtsanfälle. Kurz: Das ganz normale Programm derer, die in die Pubertät kommen. Und die auf stetes Unverständnis stoßen, weil sie ein bisschen exzentrisch sind. Die keine Freunde haben. Und keine suchen. Die gerne lesen – Suzy verliert sich in Büchern über tapfere Mädchen in fantastischen Welten, mit Buchcovern, die von verschiedenen Künstlern ganz liebevoll extra für diesen Film gestaltet wurden.
Die Liebe zwischen den Kindern, die selbstverständlich auf Ablehnung stößt: In ihr liegt die Wahrhaftigkeit, sie ist der Kern, in ihm liegt mehr Reife, mehr Erwachsensein als bei all den kindischen, mit sich selbst beschäftigten Erwachsenen um sie herum. Durch dramaturgisches Kreisen und inszenatorisches Abtasten kommt Wes Anderson diesem Kern immer näher, vergisst dabei auch die Spannung nicht – ein Finale auf dem Kirchturm, mitten im Hurrican-Sturm! – und stellt alles in einer uneigentlichen Mise en scene dar, der Film als ironischer Kommentar zu sich selbst. Wie Britten durch ein Orchesterstück zum Orchester führt, führt Anderson durch seinen Film zu seinem Film. Ganz leichtfüßig, scheinbar mühelos fügt sich alles zu einem großen Ganzen zusammen. Am Ende, während des Abspanns, wird gar das Making of der Filmmusik präsentiert, als Führer in die musikalische Welt von Alexandre Desplat.