Ein Film, bei dem mir die Floskel einfällt, – ein Film, den ich Dir ans Herz legen möchte. Kannst du Empathie für ein zwölfjähriges Heimkind entwickeln, einen Straßenräuber, der mit einem Baseballschläger hinterrücks Nachbarn niederschlägt?
Wobei der Witz ist, dass mitnichten ein Thema verhandelt wird, soziale Anklage etwa oder psychologische Dispositionen. Es geht in diesem Film einfach nur um Menschen und ihre Fähigkeit, zu anderen Beziehungen einzugehen oder eben nicht. Angesagt ist das nicht. Warum sollte man. Sollte man nicht. Wir sind gewöhnt, zum einen oder anderen motiviert zu werden. Was die Regisseure uns aber bieten, ist die Möglichkeit, sich ohne Vorbedingung auf einen anderen einzulassen, auf den Zwölfjährigen zum Beispiel. Und dann funktionierts, märchenhaft. Ja, „Der Junge mit dem Fahrrad“ ist ein Märchen, und eine Fee wird Wunder tun.
So weit mein Wort zur Einstimmung. Der Film aber macht keine Worte. Er kommt direkt zur Sache. Cyril also entweicht aus dem Heim, den Vater suchen. Er braucht ihn und überdies sein Fahrrad, um Wochenendurlaub zu bekommen. Der Vater entzieht sich. Die Wohnung ist leer. Unbekannten Orts verlassen. Cyril geht auf die Suche. Ihm hilft jemand, Samantha. Einfach so. Dann ist das Fahrrad weg. Der Vater selbst hat es geklaut und verkauft, das Schwein. – Ein Dreipersonenstück. Der Beziehungsunfähige. Die Beziehungsfähige. Ein Junge auf der Kippe, ausgenutzt von einer Jugendgang, die ihn mit dem Baseballschläger versorgt. – Klarer Fall, wie die Geschichte ausgeht, nämlich zu schön, um wahr zu sein.
Die Dardenne-Brüder tun alles, um den Film wahr erscheinen zu lassen. Aufgenommen ist er ohne jeden Firlefanz in ihrem berühmten personennahen, realistisch-dokumentarischen Stil. Ich fand es aufregend, den Schauspielern körperlich nah zu sein. Keine Psychologie dazwischen als Schutzschirm! Die Darsteller handeln, wie sie handeln. Und basta. – Das ist für unser Filmverständnis, für den Film als Thementransmitter, ungewöhnlich. Die Regisseure weichen damit von ihren großen Filmen ab, die immer auch den Gestus hatten, vor dem Zuschauer einen Fall zu verhandeln. Einige Kritiker haben jetzt beim „Jungen mit dem Fahrrad“ beanstandet, dass ihnen da nichts zum Befinden vorgelegt werde. – Je, tut mir leid, Leute. Ist ja auch nicht immer leicht, sich zu etwas natürlich zu verhalten. Aber diese altertümliche Reaktion gibt’s auch, wie man an der Flut der Preise sieht, die der Film auf den Festivals bekommen hat.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 2/2012