Zwischen Wahn und Wirklichkeit, gedehnter Zeit und sehr konkreten Räumen bewegt sich der psychisch erkrankte Mathematiker Martin Blunt (Peter Schneider) in Hans Weingartners neuem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“. Der österreichische, in Deutschland arbeitende Regisseur knüpft damit inhaltlich und thematisch an sein beeindruckendes Spielfilmdebüt „Das weiße Rauschen“ an. Wieder geht es um einen jungen Mann, der durch eine Psychose und einen längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik aus der Bahn geworfen wird. Dabei interessiert sich der politische Filmemacher Weingartner vor allem für die möglichen gesellschaftlichen Ursachen dieser Erkrankung sowie für den repressiven Umgang des Systems mit denjenigen, deren Handeln, Fühlen und Denken von der Norm abweicht, also für den Außenseiter, der durch Überwachen und Strafen ruhiggestellt werden soll.
Gleich die Einleitung des Films, in der die Weite und Ruhe einer Waldeinsamkeit mit der klaustrophobischen Enge eines Gefängniswagens kontrastiert wird, etabliert leicht forciert diese Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung aus der Klinik entgleitet Martin rasant der soziale Boden unter den Füßen: Er landet in einer Wohnung des Berliner Problembezirks Marzahn, verliert wegen „mangelnder Belastbarkeit“ seinen Job, kann sich nur schwer von seiner ehemaligen Freundin Petra (Julia Jentsch) lösen und stürzt sich schließlich in seine Alkoholsucht. Weingartner inszeniert das ruhig, fast wortlos und mit genauem Blick auf die soziale Realität. Das macht seinen Film sehr intensiv und reich an Zwischentönen. Zugleich mildert er die dargestellten Härten immer wieder mit einem empathischen Blick.
„Back in reality“, sagt Martin einmal und glaubt selbst nicht recht daran. Als er schließlich – in einer der eindringlichsten Szenen – durch den Räumungsvollzugsdienst und schier ohnmächtig vor Hilflosigkeit auch noch aus der Wohnung geschmissen wird, kehren die alten Zahlen-Dämonen und Alpträume wieder, verschieben sich ihm die Koordinaten seiner (Selbst-)Wahrnehmung. In einem Abbruchhaus begegnet er dem etwa 10-jährigen ukrainischen Waisenjungen Viktor (Timur Massold). Ihr Zusammensein, aus dem bald innige Freundschaft wird, mildert den permanenten Druck von außen. Gemeinsam flüchten sie in den Wald, der zum Refugium, zum zivilisatorischen Gegen-Ort und zum utopischen Aussteiger(t)raum wird. Sie bauen eine Hütte und erleben eine neu erwachende Stärke und Freiheit im Einklang mit der Natur. „Sei du selbst“, „hab‘ keine Angst“, lauten die Sätze, die diesen mutigen Aufbruch in einer Spiegelgeschichte mit der Zahnarzthelferin Lena (Henrike von Kuick) begleiten. Doch dann melden sich die Wächter der Norm zurück; und mit ihnen die dunklen Schatten des anderen, zerstörerischen Ichs.