Tonlos, aber laut und sichtlich stolz: der Retro-Stummfilm 'The Artist'
Wir schreiben Hollywood 1927. Ein alternder Stummfilmabenteuerheld erlebt einen jähen Abstieg; ein junges Starlet, offenherzig gegenüber dem aufkommenden Tonfilm und Leuten im Allgemeinen, steigt allmählich auf. Beide grinsen: sie vor Elan, er zunächst in draufgängerischem Stolz. Und der wird sein Verhängnis: Er verweigert Sprechrollen, fällt in Suff, Armut, Depression bis hin zu Selbstmordabsichten. Kann das Herz der jungen Kollegin ihn retten?
Die rise and fall-Parallelstory fällt weit hinter den Grad an Komplexität, Reflexivität, Witz und Rührung jener Hollywood-Filme zurück, von denen sie abkupfert (die 1937er und 1954er Version von 'A Star Is Born', die Tonfilmeinführungsmusicalsatire 'Singin‘ in the Rain' von 1952; die wenig einträgliche Auktion des einstigen Stars stammt aus Vincente Minnellis 'The Band Wagon', 1953), und sie wäre nicht der Rede wert, käme sie nicht ohne Rede aus. 'The Artist' spielt nicht nur im Übergang zum Tonfilm, sondern ist selbst ein – nein, kein Tonfilm, sondern ein Stummfilm. Mit Zwischentiteln, in Schwarzweiß.
Abbildung des Inhalts in der Form: Das gilt hier auch für die Selbstüberschätzung des Helden, der artist sein will. Inszeniert vom Franzosen Michel Hazanavicius (mit dem Cast seiner auf ihre Art ebenfalls im Retro-Styling schwelgenden, regional erfolgreichen 'OSS'-Agentenparodien: Jean Dujardin, Bérénice Bejo), versprüht 'The Artist' Gesten des back to the roots, die treffsicher ankommen: Cannes und die Golden Globes vergaben Awards, Kritiken künden von wiedergefundener Liebe zur Essenz des Kinos, und wer mitreden will, muss diesen Film ohne Worte offenbar gesehen haben. Ist 'The Artist' also vorwiegend kultursoziologisch interessant, als Geschmacksdistinktionsvehikel für den Feinspitz in uns oder den inneren Bildungsbürger, der ins Kino slummen geht und nun stolz sein kann, einen Stummfilm ausgesessen zu haben, der ohnehin als crowd-pleaser angelegt ist? Jedenfalls muss man einiges darüber lesen und sich anhören, was dieser Film uns nicht alles gibt, das so lang an den Ton verloren war, und strukturell ist dieser Diskurs analog zu jenem Gerede, das glauben machen will, erst mit dem Einsatz von 3-D-Technik könne das Kino Tiefenwirkung erzeugen. (Als gebe es nicht haufenweise – zweifellos sprödere – Tonfilme, die wie 'The Artist' fast ohne Sprechen, mit wenig Geräusch und flächendeckendem Musikeinsatz daherkommen. Und wer auf Zwischentitel gar nicht mehr verzichten mag, kann sich ja an Mel Brooks´ 'Silent Movie' von 1976 ergötzen.)
Allein, eine solche ganz auf seinen Sinn als Konsum-Event und gemeinschaftserzwingende Diskursplattform abzielende Einschätzung wird diesem Film nicht gerecht; dafür ist manches an 'The Artist' dann doch zu drollig – und manches zu ärgerlich (weil drollig). Der Film bietet einige Beglückungen, die an Belästigung grenzen: Gags mit Hunderl (die sich in ach so witzigen Juryentscheidungen zur Vergabe von Spezial-Awards für tierische Darsteller fortsetzen), grinsender Chame bis zum Abwinken, plärrende Musik, die sich im Ton vergreift, indem sie sich in 'Vertigo' vertieft, in den Score zu Hitchcocks Ichspaltungsklassiker von 1958. So als ginge es in 'Vertigo', aus dem 'The Artist' vor allem das Musikthema der Rundum-Kamerafahrt-Kussszene zwischen James Stewart und Kim Novak zitiert, darum, in der Hingabe an fetischistisch-illusionäre Wiederbelebung vergangener Vor-Bilder sein Heil zu finden – wie es der neoliberale Selbstkorrektur- und Selbstneuerfindungsplot und das 'Lass dich verzaubern'-Diktat von 'The Artist' propagieren. (Wobei gilt: Nichts gegen Fetisch und Illusion, aber alles gegen das Heil.)
Anderseits sind da gediegene klassizistische Bildregie und Dekors; eine hübsche Frackpantomime; lustige Variationen von Ton-Bild-Beziehungen in alptraumhaften Szenen, die sich auf die drohende tönende Welt beziehen; weiters John Goodman (der in einer früheren Phase der Retrokultur, 1991 in Barton Fink' und 1993 in 'Matinee', in Satiren über Irrsinn und Marotten des alten Hollywood mitwirkte) in einer kleinen Rolle als Studioboss; ein netter Namensgag, dem zufolge die weibliche Hauptfigur Peppy Miller akronymisch so heißt wie die Darstellerin ihrer Rivalin, Penelope Ann Miller; schließlich ein streberhaftes, aber starkes Step-Finale. Ganz am Ende gibt es den ersten Ton aus menschlichem Mund – ein angespanntes Keuchen nach absolvierter Glanztanznummer – und dann den einzigen Sprechton: ,,Can you do one more?' wird das neue Traumpaar vom Regisseur des Films-im-Film gefragt, und der rundumerneuerte Star erwidert strahlend: 'With pleasure!' Nachdem hier alles Selbstabbildung eines gewitzten Kalküls ist, muss man das fast als Ankündigung verstehen, dass da noch mehr kommt. What will they think of next? Stummfilm – der neue Hype: Angeblich wird ,,Avatar 2' nun ohne Ton und in Blauweiß gedreht.