Am Anfang steht bildgewordene Erwartung: Ein Tisch, vorbereitet für eine Lesung, ein Mikrophon dahinter, das Buch, um das es gehen wird, ist dekorativ aufgestellt. Die Erwartung wird zum Warten, als ein Mann, nicht der Autor, ins Bild und ans Mikrophon tritt, um in italienischer Sprache anzukündigen, dass jener sich verspäte. Kaum nachvollziehbar sei diese Verspätung, wohne der Autor doch in einem Zimmer direkt über dem Saal der Lesung. Schließlich erscheint dieser, ein Brite, und beginnt, die italienische Version seines Buches, „Certified Copy“, vorzustellen. Um die Kunst geht es darin, genauer um Originale und Fälschungen und die Frage, welche Pfade von der Fälschung zum Original führen. Eine mutige Behauptung des Eigenwerts von Fälschungen soll es sowieso sein und auch „an invitation to self-enquiry“, wie der Autor, James Miller (William Shimell), einen seiner begeisterten Leser zitiert. Eine Frau (Juliette Binoche), deren Namen wir in den kommenden knapp zwei Stunden nicht erfahren werden, betritt den Raum, setzt sich in die erste Reihe. Ihr kleiner Sohn kommt etwas später dazu, ist offensichtlich gelangweilt. Ärgerliches Getuschel zwischen den beiden, das wir akustisch nicht hören, aber verstehen. Die Frau steckt dem italienischen Verleger eine Karte zu, darauf bittet sie um ein Treffen mit Miller. Die Szene wechselt. In einem Café bringt der Sohn die Mutter mit seinen Fragen nach dem amourösen Hintergrund ihres geplanten Treffens mit dem Autor in Bedrängnis, schließlich zum enervierten Gesprächsabbruch. Mit einem weiteren Schnitt befinden wir uns im Souterrain des Antiquitätengeschäfts der Frau. Miller erscheint. Das Treffen findet tatsächlich statt.
Mit diesen ersten Minuten hat Abbas Kiarostami sein Kino ein weiteres Mal aufs Schönste etabliert: Ein Filmemacher, der das vermeintlich Wichtige konsequent ins „Zwischen“ auslagert und dabei doch niemals Geheimnisse behauptet, nie „Verstecke“ der Bedeutung suggeriert, die es bloß aufzudecken gelte. Die Leerstellen, um die herum sich ein Netz feinster Andeutungen gruppiert, sind genau das: Unbesetzt und darum mannigfach besetzbar. In „Die Liebesfälscher“ grenzt diese schwebende Freiheit, die die radikale Emanzipation des Betrachters bedeutet, an ein Wunder. Sie steht am ehesten in einer Linie mit früheren Filmen Kiarostamis, jener Serie von Meisterwerken aus den 1990er-Jahren, die sich, mehr als zuletzt, konsequent der narrativen Überfrachtung von Filmbildern verweigert hatten: „Der Geschmack der Kirsche“ (1997), „Der Wind wird uns tragen“ (1999) und insbesondere „Und das Leben geht weiter“ (1992) und „Close-Up“ (1990).
In seinem neuen Film wird dieser rigorose Bruch mit dem „Filmerzählen“ mit den Mitteln des Romans auf besondere Weise evident, indem Kiarostami eine Ausgangssituation wählt, der das Erzählen normalerweise unabdingbar erscheint, nämlich ein Kennenlernen zwischen Mann und Frau. Dieser Situation schiebt er auf wunderbare und rätselhafte Weise den Diskurs um Original und Fälschung vermittels einer seltsamen Volte quasi unter: Die Antiquitätenhändlerin und der Autor begeben sich auf einen Ausflug in eines der umliegenden Dörfer in der Toskana, das jungen Paaren traditionellerweise als Hochzeitsort dient. Als eine Wirtin die beiden folglich als Ehepaar identifiziert, verzichtet die Frau nicht nur auf die Richtigstellung dieses Irrtums (ist es ein Irrtum?), sondern gemeinsam mit Miller beginnt sie ein Spiel der „Liebesfälschung“: Sie verweisen fortan auf eine vermeintlich gemeinsam verbrachte Vergangenheit, reden und streiten wie ein lange Jahre verheiratetes Paar. Abwechselnd spricht man Englisch, Französisch und Italienisch. Kiarostami verortet dieses Spiel in der Intimität des Autos, in dem die beiden fahren, und in der seltsamen Enge eines leeren Restaurants, die durch streng dialogisierende Schuss-Gegenschuss-Montage noch verstärkt wird. Dann aber entlässt seine Kamera sie auch immer wieder ins Freie, scheint ihnen in äußerster Beweglichkeit eher vorauszueilen als ihnen zu folgen. Personen treten in das und aus dem Bild, Passanten kommen mit dem angeblichen Paar ins Gespräch. Alles ist flüchtig, alles leicht. Wie in „Der Geschmack der Kirsche“ meint man, eine dritte Präsenz zu ahnen: Die der Kamera, des Filmteams oder unsere eigene als Betrachter. Hin und wieder scheinen die Frau und der Mann auf dieses Dritte zugehen zu wollen. Doch die Kamera ist stets schneller, entzieht sich als Zielpunkt der Bewegung. Warum jedoch diese zwei Menschen all dies tun und zu welchem Teil ihr Spiel tatsächlich „Fälschung“ und zu welchem vielleicht doch „Original“ ist, das bleibt kompromisslos im Zwischenraum der Zeichen.
Auf diese Weise wird Kiarostamis Film körperlos, löst sich geradezu ab von seinen eigenen Bildern, deren leuchtende toskanische Landschaften in den typischen langen Autofahrtenszenen wie überparfümierte Schönheiten vorbeifliegen. Desto weiter die beiden „Fälscher“ auf den sich schlängelnden, von Zypressen beschatteten Straßen fahren, desto zielloser sie über Marktplätze und durch alte Gassen schlendern, desto mehr, so möchte man meinen, wird – in Umkehrung des Wagner’schen Diktums – der Raum zur Zeit: Die Bilder werden porös, die Orte, die sie zeigen, durchlässig für eine Vergangenheit, die Miller und die Frau vielleicht gemeinsam an diesen verbracht, vielleicht aber auch gerade bloß erfunden haben können. Manche dieser Orte, insbesondere ein Hotelzimmer, in dem die Eheleute der „Erzählung“ vor fünfzehn Jahren ihre Hochzeitsnacht verbracht haben sollen, behaupten eine Eigenständigkeit abseits der Frage, ob sie nun in ein Spiel der Wiederholung realer Geschehnisse oder in eines der kunstvollen Fiktionen eingebettet sind. Sie werden zu Sehnsuchtsorten in der weiten Offenheit des Hier und Jetzt: Vielleicht ist nichts das, wonach es aussieht, doch im Graubereich jenseits der Eindeutigkeit schwingt hier etwas, das weder Andeutung noch „Hinweis“ ist.
Vor einigen Jahren erschien auch in deutscher Übersetzung ein Band mit Gedichten Kiarostamis, „In Begleitung des Windes“. „Die Liebesfälscher“ fühlt sich vielleicht an wie das Weiß zwischen Zeilen wie diesen: „Als ich aus dem Schlaf fuhr / War gerade Frühlingsanfang / Nicht weniger / Und nicht mehr“