Der Elefantenmensch

(GB / USA 1980; Regie: David Lynch)

Crushed by the wheels of industry

„Oh, Mr. Merrick, Sie sind kein Elefantenmensch, Sie sind Romeo!“

In David Lynchs Werk finden sich zwei Filme, die auf den ersten Blick „normal“ scheinen, d.h. die offenbar nicht in einer irgendwie surreal verformten Welt spielen. Beide beruhen auf Tatsachen. Der eine ist „The Straight Story“, der andere „The Elephant Man“.

John Merrick, ein junger Engländer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wird aufgrund der absurden Deformation seines Kopfes (mit fast einem Meter Umfang) und seines mit Geschwüren bedeckten Körpers von seinem „Besitzer“, dem Schaubudenbetreiber Bytes, auf Jahrmärkten als der „Elefantenmensch“ vorgezeigt, bis er von dem Londoner Arzt Dr.Treves für seine wissenschaftliche Forschung entdeckt und, nach mehreren Hindernissen, auf Dauer im Hospital untergebracht wird. Es stellt sich heraus, dass Merrick nicht, wie man wegen seiner zunächst apathischen Stummheit vermutet, schwachsinnig, sondern ein sensibler Mensch mit wachem Reflektionsvermögen ist, ein einsamer, misshandelter Mann, der jahrelang wie ein Tier gehalten wurde und nie eine Chance hatte mit anderen Menschen in gleichberechtigten Kontakt zu treten. Merrick kann sprechen, sogar lesen und schreiben, und Dr. Treves versucht, ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

Schwarzweißbilder klassischen britischen Kinos eines David Lean prägen die Atmosphäre des “Elefantenmenschen“, kontrapunktiert durch einen Prolog, Epilog und Mittelteil (kurze phantasmagorische Verdichtungssequenzen, die für Geburt, Tod und leidvolle Existenz des Elefantenmenschen stehen), Urbilder der Angst, wie wir sie von Lynch kennen – optische und akustische Fremdkörper, die sich wundersam einfügen in diesen eher konventionellen Film, der auch Jahrzehnte zuvor hätte gedreht sein können, was vor allem dem Briten Freddie Francis zu verdanken ist, der als Kameramann seit den Fünfziger Jahren an Filmen beteiligt war, die, laut Robert Fischer, zu den „schönsten Schwarzweißfilmen in Cinemascope zählen, die je gedreht wurden“, (z.B. „Söhne und Liebhaber“ (1960) oder „Schloss des Schreckens“ (1961)). „Der Elefantenmensch“ ist der einzige Film, den der Amerikaner Lynch in Europa inszeniert hat. Er hat in ihm so viel Gespür für England, London und die viktorianische Zeit entwickelt, dass er sich während der Dreharbeiten geradezu in einen britischen Regisseur verwandelte. Da er erst mit dem „Elefantenmenschen“ beim großen Publikum bekannt wurde, hielten ihn lange Zeit viele Amerikaner für einen Engländer.

Das düstere, vernebelte London eines späten Dickens-Romans beherbergt in der Figur dieses „Elefantenmenschen“ John Merrick eine Fusion des „Quasimodo“, dem „Glöckner von Notre Dame“ (nach Victor Hugos Roman, verfilmt u.a. 1939 von William Dieterle) und dem herangewachsenen Baby aus Lynchs „Eraserhead“ (1977): eine missgestaltete, erschreckende und ausgestoßene Kreatur. Im Unterschied zu „Eraserhead“ hat Lynch die Perspektive gewechselt. Er sieht mit den Augen der leidenden Missgeburt auf die Welt, die sie verdammt, nicht umgekehrt. Dieses Monster ist gutmütig und unschuldig, es will nur ein eines Menschen würdiges Leben – in einer frühindustriellen Welt, in der geschundene Menschen in einer durch qualmende Schlote verfinsterten Stadt arbeiten und leben müssen. Eigentlich ist der Elefantenmensch Merrick keine Ausnahme, sondern eher komprimiertes Sinnbild seiner Epoche. Er ist der Status Quo des unterdrückten, an den Rand des Interesses gedrängten und von der Industrialisierung verformten Menschen.

In den Filmen David Cronenbergs besteht die evolutionäre Konsequenz des industriellen Zeitalters meist darin, dass Mensch und Maschine zu einer Einheit verschmelzen. In David Lynchs „Elephant Man“ imitiert der Körper den Himmel über den Fabriken: „… man sieht Bilder von Explosionen – großen Explosionen – sie haben mich immer an die Papillome an John Merricks Körper erinnert… selbst die Knochen explodierten … brachen durch die Haut und bildeten diese Wucherungen in Form von langsamen Explosionen … Die Vorstellung von Schloten, Ruß und Industrie unmittelbar neben dem verwucherten Fleisch war … etwas, das mich weitermachen ließ …“ (aus: „Lynch über Lynch“).

Wie auch „Eraserhead“ atmet „Der Elefantenmensch“ die hermetische, stickige Luft eines rauhen Industrialismus. Wie in „Eraserhead“ ist ein permanentes Grummeln und Wummern Soundgrundlage. Weil im viktorianischen London eines der lynch’schen Lieblingssujets, die Elektrizität (die in jedem seiner anderen Filme summt und jeweils mindestens einmal gefährlich knistert und deren Bedrohlichkeit sich durch flackernde Lampen bemerkbar macht), noch nicht im allgemeinen Gebrauch war, benutzt Lynch das Geräusch der Gaslampen als zweite wichtige Geräuschkulisse neben dem Fabrikenvibrato.

Sehr schön sicht- und hörbar ist seine bewusste Vertiefung in dieses „Gas-Phänomen“, als die Oberschwester das Gas zur Nacht herunterdreht und nicht nur alle Flammen kleiner werden, sondern zuerst das von Tongestalter Alan Splet und David Lynch gemeinsam zurecht ziselierte Geräusch verminderten Gasaustritts ertönt.

„Es ist Nacht!“ murmelt Merrick dann im Dämmerlicht, und er weiss wie kein anderer um die Schrecken und die Ungeheuer dieser Stunde. Damit antizipiert er schon den Augenblick, in dem Frank Booth in „Blue Velvet“ (1986) mit den Worten „Jetzt ist es dunkel!“ seine eigene Verwandlung in den so infantilen wie gefährlichen Psychopathen im Ausnahmezustand einleiten wird. In der Lynch’schen Nacht schläft die Vernunft, und der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Die Dunkelheit ist die Zeit des Traumes, (der Romantik, des Surrealismus), des Bösen (der Gewalt, des Verbrechens) und des nicht Erkennbaren, des Unbewussten, das Angst bereitet, solange es nicht entschlüsselt ist.

Je mehr John Merrick leiden muss, desto dunkler wird der Film, desto weniger können wir ihn erkennen, so als müsse er wieder in der Nacht des Leidens und der Sprachlosigkeit versinken, aus der er gekommen ist. Nur die Sprache bringt Licht, nur durch sie bekommt Merrick Konturen, durch sie entschlüsselt sich ihm die Welt, klärt sie sich auf.

Dunkel sind auch die Bilder seiner mysteriösen Herkunft: Die mit John schwangere Mrs. Merrick sei „in ihrem 4. Monat auf einer unbekannten afrikanischen Insel von einem Elefanten niedergetrampelt“ worden, proklamiert Bytes, Merricks Schausteller. Und Merrick hat tatsächlich selber Ähnlichkeit mit einem Elefanten.

John Merrick ist, auch in der vermeintlichen Sicherheit des „London Hospital“, beidem ausgesetzt, in der Nacht der perversen Schaulust und den demütigenden Qüälereien der Londoner Halbwelt und tagsüber dem Interesse der gehobenen Gesellschaft, die ihn offiziell begafft, der er Tee anbietet, aber deren höfliche Umgangsformen er bis zur vollendeten Vornehmheit kultiviert, und deren Kultur, von Salomons Psalmen bis zum Theaterbesuch, er als Antwort auf die ihm an Leib und Seele erfahrenen Barbarei begreift. Anteilnahme und Respekt widerfahren ihm durch Dr.Treves (Anthony Hopkins), den Klinikleiter (John Gielgud) und die Oberschwester des Hospitals. Anne Bancroft spielt eine Theaterschauspielerin, die in Merrick gar den „Romeo“ erkennt und ihm seinen ersten Kuss gibt (12 Jahre nachdem sie in der „Reifeprüfung“ (1968) als Mrs. Robinson in Dustin Hoffman [profaner] den Mann erkannte und gebrauchte).

Merrick findet sein wahres Ich. Er wird Künstler, weil sich erst in der Kunst der Mensch über sein materielles und sterbliches Dasein erhebt. Er fertigt aus Streichhölzern die Miniatur einer Kathedrale, von der er durch sein Fenster nur die Turmspitze erkennen kann. Mit Hilfe der Phantasie baut er ein komplettes Kathedralenmodell, beinahe erfindet er die Gotik neu, und mit diesem Lebenswerk – wenn es vollendet ist, wird er sich zum Sterben niederlegen – rekonstruiert er das erzählerische Zentrum des „Glöckner von Notre Dame“. Merrick wohnt in einer Kammer unter dem Turm des Hospitals, zunächst erschreckt er beim Schlag der Turmglocke; später scheint es, als erinnere er sich an (s)ein anderes, früheres Dasein …

Später werden uns Kleinwüchsige an die „Freaks“(1932) von Tod Browning erinnern. „Freaks“ ist „immer der unerträglichste Monsterfilm, weil das Hollywood-Kino, das sonst die schönen Körper feierte, hier zu einer Identifikation mit einer Menschheit zwingt, die nicht die üblichen äußeren Formen unserer Art hat“, schrieb Frida Grafe 1993. Diese „Freaks“ retten ihren „Bruder“ John Merrick aus größter Not, führen ihn vorbei an einem nächtlichen Fluss, der wiederum – und da schließt sich ein mysteriöser Kreis – der „Nacht des Jägers“ (1955), Charles Laughtons einziger – und leider damals unterschätzter – Regiearbeit entsprungen sein muss. In „Die Nacht des Jägers“ sind zwei Kinder vom Bösen verfolgt, und der Fluss ist ihr märchenhafter Beschützer. Verletzbarkeit und wehrlose Unschuld eint die Hauptfiguren aller drei Filme.

Die Geschichte John Merricks beruht auf einem Tatsachenbericht des echten Dr.Treves. John Carey Merrick lebte von 1862 bis 1890. Die im Film verwendete Maske des „Elefantenmenschen“ (gespielt vom im Film nicht erkennbaren John Hurt) wurde dem Gipsabdruck der Totenmaske des originalen John Merrick nachgebildet. Dieser Gipskopf hatte seit Merricks Tod bis zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch nie das „London Hospital“ verlassen. So ist also der „Elefantenmensch“ im Schutz, gewissermaßen aber auch im „Besitz“ des Krankenhauses geblieben (ähnlich wie er vorher im „Besitz“ des Schaubudenbetreibers Bytes war), bis David Lynch ihn zum ersten Mal daraus befreite – und sich zu eigen machte.

„Der Elefantenmensch“ ist eine Parabel menschlicher Einsamkeit, der Sehnsucht nach Geborgenheit inmitten einer brutalen, materialistischen Welt. Wenn John Merrick sagt, dass er nur geliebt werden will, so wie er ist, dann spricht er nicht nur für die „Freaks“ dieser Welt, sondern eigentlich für jeden von uns. Oder können wir keinen einsamen Elefantenmenschen in uns finden?

Benotung des Films :

Andreas Thomas
Der Elefantenmensch
(The Elephant Man)
Großbritannien / USA 1980 - 123 min.
Regie: David Lynch - Drehbuch: Christopher DeVore, Eric Bergren, David Lynch - Produktion: Jonathan Sanger - Bildgestaltung: Freddie Francis - Montage: Anne V. Coates - Musik: John Morris - Verleih: Universal (DVD) - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Anthony Hopkins, John Hurt, Anne Bancroft, John Gielgud, Wendy Hiller, Freddie Jones, Michael Elphick, Hannah Gordon, Helen Ryan, John Standing, Dexter Fletcher, Lesley Dunlop
Kinostart (D): 13.12.1981

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0080678/