Als der nicht gerade im Luxus lebende Schuhputzer Marcel Marx (André Wilms) in seiner Mittagspause im Hafen von Le Havre am Kai sitzend auf das Wasser starrt, entdeckt er den afrikanischen Flüchtlingsjungen Idrissa (Blondin Miguel), der sich aus Angst vor der Abschiebung vor der Polizei ins Wasser geflüchtet hat. Schockiert und berührt zugleich, lässt er ihm ein belegtes Baguette und ein paar Geldscheine auf den Stufen zurück. Doch das Ereignis lässt ihn nicht mehr los, und so macht er es zu seiner Sache, diesem Jungen zu helfen, und ihm die Weiterreise nach England zu ermöglichen. Denn dort hofft Idrissa, seine Mutter zu finden.
Aki Kaurismäkis jüngster Film scheint wie aus der Zeit gefallen: Die Ausstattung und die Dekors lassen an die 60er Jahre denken, was ihm in seinem stilisierten Reduktionismus einen außerweltlichen, enthobenen Schauplatz verleiht. Der Plot um das Flüchtlingsdrama eines afrikanischen Jungen jedoch, der ist hoch aktuell. Und im Verbund dieser beiden Aspekte lässt sich der Film als engagiertes Sozialmärchen lesen, auch wenn ihm so einiges genuin Märchenhaftes abgeht. In „Le Havre“ geschehen Dinge, die sonst eben nicht passieren. Und wenn doch, dann gehen sie in der realen Welt zumeist in die Hose. Dies ist das Schöne und Humane an Kaurismäkis Film: Denken wir uns doch einfach mal, die Sachen klappen so, wie man sie sich vorstellt, so dass am Ende sogar noch alles gut wird. Das ist ziemlich schockierend.
Marcel vermag eine besondere Solidarität unter seinen Mitmenschen zu wecken – etwa wenn es darum geht, das benötigte Reisegeld für den Jungen zusammen zu bekommen. So wird kurzerhand ein Solidaritäts-Konzert mit dem ehemaligen, nun abgehalfterten Hardrocker Little Bob organisiert (laut Kaurismäki der Elvis Le Havres), welches natürlich ein voller Erfolg wird – ein Schelm, wer hier an Johnny Hallyday denkt. Wenn dann die Polizei anrückt, hier ikonographisch stilisiert im ermittelnden Kommissar (Jean-Pierre Darroussin) mit Trenchcoat und Hut, schmalen Lippen und durchdringendem Blick, dann büxt man am Eingang eben schnell aus und klemmt sich geschwind die Kasse unter den Arm. Und so kommt auch Kaurismäkis Film immer wieder davon, denn schließlich wurde eine offene, schwebende Erzählhaltung etabliert, die solche Handlungsentwicklungen möglich und innerhalb der Logik des Films glaubhaft macht. Man befindet sich – an der Seite der Gauner – nun eben kurzerhand in der Kriminalkomödie (während wir eben auf dem Konzert noch im Musikfilm waren), ergo: es muss die Flucht gelingen.
Dass Kaurismäkis „Le Havre“ nicht nur Komödie sondern immer auch Tragikomödie ist, das ahnt jeder, der die Filme des Regisseurs kennt. Aller offenkundigen Unterhaltungswerte zum Trotz befinden wir uns „im Milieu“, in den Kneipen der Tagelöhner und Arbeitslosen, in denen stets getrunken und exzessiv gequalmt wird, wo sich die Tätowierungen auf den Unterarmen befinden und man die Hoffnungen auf ein bürgerlicheres Leben vor Jahren aufgegeben hat, als man als Hilfsmatrose auf irgendeinem Dampfer gen Südostasien aufgebrochen war. Doch Kaurismäki weiß, was er tut: hier ist Freundschaft und Mitmenschlichkeit noch möglich, hier lässt man sich auf solch ein irrsinniges Projekt noch ein, hier finden sich Menschen, die, selbst am Rande der Gesellschaft stehend, den Gestrandeten helfen. Und so geht Marcel, der selbst einmal Schriftsteller werden und mit dem Roman schreiben sein Geld verdienen wollte, seiner Wege. Jeden Tag, mit seinen Utensilien von Straßenecke zu Straßenecke, bis der Arbeitstag in Wind und Wetter vorüber ist, und er nach Hause zurückkehren kann zu seiner Frau Arletty (Kati Outinen), die in die Klinik muss, weil sie schwer erkrankt ist. Doch mit seinem unerschütterlichen Optimismus kämpft Marcel gegen die zwischenmenschliche Gleichgültigkeit und gegen eine unmenschliche, bürokratische Staatsmacht, die vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher finanzieller, politischer und moralischer Krisen – ganz der wahrhaftigen Utopie der Erzählung folgend – dann doch nicht anders kann, als ein Auge zuzudrücken, um für einmal im Dienste seiner Bürger zu stehen und Mitmenschlichkeit vor Recht ergehen zu lassen.