Dieser Film machte Quentin Tarantino zum Starregisseur, und er blieb es (trotz vielbeachtetem Vorgänger „Reservoir Dogs“ (1992) und umstrittenem Nachfolger „Jackie Brown“ (1997)) bisher wegen „Pulp Fiction“. Die Hälfte aller Gangsterkomödien der neunziger Jahre wäre ohne diesen Film wahrscheinlich nicht entstanden, und doch konnte keine von ihnen dem Vorbild das Wasser reichen. Grotesk und ruppig, komplex und abwechslungsreich war „Pulp Fiction“ 1994 ein Geniestreich, eine Adrenalinspritze ins Herz des Unterhaltungskinos und mehr als das …
In vier zeitlich gegeneinander verschobenen Episoden schildert „Pulp Fiction“ vier Tage im Halbweltmilieu von Los Angeles. Die chronologische Abfolge der Handlung beginnt am
1. Tag mit der kaltblütigen Ermordung von vier jungen Männern durch die beiden Berufsgangster Jules und Vincent, gefolgt von einer unter Leitung des „Wolf“ (Harvey Keitel) durchgeführten „Reinigung“ von Auto und Personal, einem Überfall in einem Highwayrestaurant, ausgeführt von Kleingangsterpärchen Yolanda (Amanda Plummer), genannt Honeybunny und Pumpkin (Tim Roth), daran anschließend der erste Auftritt von Butch, dem Boxer. Dieser hat eine Unterredung mit Marsellus Wallace (Ving Rhames), dem Gangsterboss, welcher ihm dringend „empfiehlt“, seinen nächsten Kampf zu verlieren und sich hinterher in den Ruhestand zu begeben.
2. Tag: Vincent besorgt sich bei Edel-Dealer Lance (Eric Stoltz) Heroin, setzt sich einen Schuss, bevor er Mia Wallace (Uma Thurman), die Frau des Boss, auftragsgemäß zum Tanz ausführt, sie sein Heroin mit Kokain verwechselt und beinahe an einer Überdosis stirbt.
3. Tag: Boxer Butch gewinnt seinen Boxkampf und flieht zu seiner Freundin (Maria de Medeiros) in ein Motel. Als er am
4. Tag seine Armbanduhr, ein (groß-)väterliches Erbstück, aus seiner Wohnung holt, trifft er den auf ihn angesetzten „Hit-Man“ Vega, den er erschießt. Im Auto sieht ihn Boss Wallace, beide liefern sich einen blutigen Kampf, der sie in eine sinistre Pfandleihe treibt, wo die Handlung einem kruden Ende entgegensteuert.
Die geniale Frechheit von „Pulp Fiction“ liegt in dem, was geschieht, aber auch darin, wie es geschieht. Das liegt nicht zuletzt an der brillanten Spiellaune der bis in kleinste Nebenrollen hochkarätigen Schauspieler. Man hat einen Bruce Willis kaum so selbstironisch und gleichzeitig so ideal in einer Rolle gesehen, wie in der des einfältigen Boxers Butch Coolidge. John Travolta ist der eitle, genusssüchtige Vincent Vega. Er ist nachvollziehbar stoned vom Heroin, beim Tanz obendrein eine Travolta-Parodie, verknallt in Uma Thurman, die ihn wiederum nicht von der Bettkante schubsen würde, wären da nicht Gatte und Luxus. Und Samuel L. Jackson ist der ‚bad motherfucker‘ Jules Winnfield, der böse guckt, wie der (un-)gerechte Zorn Gottes. Offenbar ist er durchs Fernsehen sozialisiert und christlich erzogen, weshalb er auch im Gegensatz zum atheistisch-hedonistischen Vince einen göttlichen Fingerzeig von einem Zufall unterscheiden kann – für ihn Anlass, seinen Beruf aufzugeben und fortan wie „Kane“ aus der Fernsehserie „Kung Fu“, durch die Lande wandeln zu wollen, um „Gutes“ zu tun.
Die Moral des Bösen
Der programmatische Titel „Pulp Fiction“ ist eine Anspielung auf die klischeereichen Gangsterstorys auf billigem Papier (pulp) gedruckter amerikanischer Groschenromane der 30er/40er Jahre, damals auch Vorlagen für Filme der „Schwarzen Serie“. Die Kritik bezeichnete 1994 „Pulp Fiction“ als „postmodernes Kino“ und gestattet man sich den Versuch, die Geschichte der Film- und Fernsehgenres als eine billige Weltgeschichte zu betrachten, lässt sich die vordergründige Künstlichkeit von Story (stories) und Typisierung der Figuren in „Pulp Fiction“ auch als Spiel mit deren billigen Versatzstücken lesen. Doch der Film besitzt neben gar nicht so platten Charakteren auch einen roten Faden, Aussagen und Geheimnisse, die ihn über ein „harmloses Trash-Happening“ (epd-Film) hinausheben. So ist ein zentrales Motiv ein Koffer aus dem Besitz des Bosses Wallace. Seinetwegen werden die vier jungen Männer ermordet. Während des gesamten Films erfahren wir nichts über seinen Inhalt. Als routinierte B-Movie-Experten ist uns natürlich klar, dass im Koffer entweder Geld oder Drogen sein müssen,- das ist das Klischee, dem wir freudig aufsitzen. Beim genauen Hinsehen bemerken wir: Die Nummer des Kofferschlosses ist 666, die biblische Zahl des Teufels, und wenn der Koffer geöffnet wird, fällt ein goldener Schein auf den, der überwältigt hineinblickt. „Ist es das, was ich denke?“, fragt Pumpkin, und Jules antwortet bejahend: „Mmmh!“
Ironisch treibt Tarantino hier das Spiel mit der bekannten Fiktion, reduziert sie aber gleichzeitig auf ihren Symbolcharakter Geld, Gold, Macht. Und die Macht ist beim Teufel (666), dessen Handlanger Jules und Vincent sind. Jules‘ Selbsterkenntnis treibt ihn zur Umkehr, wenn er zu Pumpkin sagt: „Die Wahrheit ist, du bist schwach. Und ich bin die Tyrannei der ‚Bösen Männer‘.“ Eine Klischeefigur, die über sich selbst philosophiert! Ein starkes Stück. Ein Lehrstück politischer Deeskalation übrigens ist Jules‘ diplomatischer Umgang mit Yolanda, Pumpkin und Vincent. Eine Reinigung, wenn man will, auch im kathartischen Sinn, ist die vorhergehende, demütige Säuberung des mit Hirn bekleckerten Wagens unter Anleitung des perfekten „Wolf“, eine Katharsis allerdings, die Vincent nur äußerlich nachvollziehen, der erleuchtete Jules jedoch als weiteres göttliches Zeichen verstehen dürfte.
Auch Boxer Butch besitzt seine spezifische Verwurzelung, er entspringt einer patriarchischen Tradition, welche sich in einer Armbanduhr manifestiert, die als Zeugin sämtlicher US-Kriege des 20. Jahrhunderts in den „Ärschen“ von Großvater, Vater und dem des Vaters überlebendem Kamerad Christopher Walken (hier in einer Selbstparodie auf seine Vietnamfilme, wie „Die durch die Hölle gehen“) aufbewahrt („damit die Reisfresser sie nicht finden“) und dem Kind Butch von letzterem überliefert wurde. Das gleichzeitig väterliche und nationale Erbe ist hier buchstäblich „a pain in the ass“ und dennoch das, wofür auch Butch sein Leben riskiert. So ist Butch die einzige Figur mit einer Tradition von Moral und Ehrbegriff (sei sie noch so zynisch und unhaltbar), was es ihm unmöglich macht, sich von Wallace, dem mächtigen Vertreter des Verbrechens, erpressen zu lassen. Folgerichtig und nicht zufällig ist daher beider Showdown als Duell des „guten“ gegen das „böse“ Prinzip.
Grandios aber ist der darauf folgende überraschende Fall in den Keller, in das pathologische Amerika, und das schiere Versagen der „Pulp Fiction“, denn hier sind beide Pseudo-Prinzipien endgültig hinfällig, hier herrschen nur noch perverse Willkür und Sadismus, das Ende schöner, da sinnstiftender Kriminalgeschichten. Hier heißt das Genre „Horrorfilm“ und das „Texas Chainsaw Massacre“ lässt grüßen. Dieser Keller ist der psychische Bodensatz einer Gesellschaft, die ihre moralischen Werte verloren hat. Gegen seine kranken Akteure (einer von ihnen ist bezeichnendenderweise der einzige Polizist im Film) wirken selbst die eiskalten Killer Jules und Vincent noch wie respektvolle Vollzugsbeamte.
Kult, Kultur und coole Kerle
„Pulp Fiction“ war der Kultfilm der neunziger Jahre. Vermutlich zeichnen dafür besonders die beiden in schwarzen Anzügen agierenden Killer verantwortlich (Söhne der „Blues Brothers“ und Väter der missratenen „Men in Black“), die, wenn sie nicht gerade ihrer blutigen „Arbeit“ nachgehen, ziemlich normale Jungs von nebenan sein könnten, philosophierende Machos, die gerne mal Drogen zu sich nehmen, ihre Zigaretten selber drehen oder über Hamburger plaudern. Wären sie nur normal, wären sie aber egal. Was sie neben ihrem spannend-schaurigen Beruf für die Masse der (wahrscheinlich vorwiegend männlichen) größeren Jugendlichen der neunziger Jahre vor allem attraktiv gemacht hat, war ihre definitive „Coolness“. Zu jeder Extrem-Situation ein extrem gelassener Spruch, das ist Understatement, und dieses Understatement aus „Pulp Fiction“ prägte eine ganze, „coole“ Generation.
Doch die grelle und ironische Verquickung hoher und niederer Filmgenres war auch Vorlage für eine endlose Reihe von Filmen, die Derbheit und Obszönität mit Humor verwechselten (z. B. „Der Eisbär“, „Bube, Dame, König, Gras“, „Lammbock“: Filme, die dem Irrtum aufsitzen, wenn Drogen, Doofheit und brachiale Gewalt zusammentreffen, sei allein das schon provokant und irre komisch).
Der Unterschied zu letztgenannten Elaboraten: Tarantino sitzt seinen selbstgebastelten Klischees nicht wirklich auf. Hintergründig, souverän und voll böser Ironie spielt er mit ihnen. Und wenn Gewalt ins Spiel kommt, wird sie bei aller Plakativität nicht wirklich (d. h. nicht immer) verharmlost. Ein Beispiel: Das Düstere und Schreckliche der langen ‚Hinrichtungsszene‘ wird durch die bedrohliche Routiniertheit der Killer und die angsterfüllten Gesichter der Opfer, die auf ihr sicheres Ende warten, unerträglich potenziert. Kein Mainstream-Hau-drauf-Film hatte sich jemals die Mühe gemacht, uns so unbarmherzig die Todesangst seiner Figuren, den Schrecken des Todes spüren zu lassen. Solches war vor Tarantino eher erklärtes Ziel des „Antikriegsfilms“, des „ernsten“ Films, oder die seltene Leistung stilistisch schwierig einzuordnender, zwischen „Action“ und „Art“ changierender Regisseure wie Peckinpah, Scorsese oder Lynch. Tarantino reiht sich bei ihnen ein, indem er respektlos die Grenze zwischen niederem Entertainment und hoher Kunst ignoriert, der „billigen Fiktion“ tiefere Wahrheiten unterjubelt und dem „kulturell wertvollen“ Film die sinnliche Profanität der real existierenden Populärkultur nahebringt.
Das mit witzigen Dialogen gespickte Drehbuch, die tragfähigen Spannungsbögen, die Führung der hochkarätigen Darsteller und der Formwille von Kamera und Schnitt (incl. verfremdender Elemente) zeugen von einer Allround-Filmkenntnis, die sich der filmbesessene Tarantino u. a. als jahrelanger Angestellter eines Videoverleihs angeeignet, aber auch als Kleindarsteller bei Dreharbeiten zu „Golden Girls“ oder bei Jean-Luc Godard abgeguckt hat.
Entscheidend hinzu kommt der kongeniale Soundtrack, eine Mixtur aus Surfbeat und Seventies-Pop, ohne den der Film so nicht denkbar wäre, und der sogar die Musiktrends der neunziger Jahre beeinflusst hat. Neben der Musik von „Trainspotting“, und „Natural Born Killers“ (nach dem Drehbuch Tarantinos) ist der Soundtrack von „Pulp Fiction“ einer der bestverkauften und originellsten der letzten zehn Jahre.
Noch einmal: „Pulp Fiction“ ist smart und plump, schockierend und witzig zugleich, aber: „There‘s more to the picture, than meets the eye“,- und ebendieses „more“ ist, was zu entdecken das größte Vergnügen an diesem Film bereitet …