Louis Malle ist einer der großen Eklektiker des europäischen Kinos. Sein Oeuvre ist bekanntermaßen äußerst vielgestaltig und reicht von den Anfängen der Nouvelle Vague, über den klassisch anmutenden Spielfilm bis hin zu den anthropologischen Studien des Dokumentaristen. Nachdem neben den filmischen Hauptwerken bereits vor kurzem Malles Indien-Filme erschienen sind, legt das Label Pierrot le Fou nun auch eine Auswahl seiner amerikanischen Arbeiten vor: eine 3 DVD-Edition, die neben „Mein Essen mit André“, die beiden dokumentarischen Arbeiten „Gottes eigenes Land“ und „… und das Streben nach Glück“ enthält.
In „Gottes eigenes Land“ wird man ohne Vorspann oder Eröffnung mitten hineingeworfen: eine Frau Ende Achtzig jätet den üppigen Garten vor ihrem Haus und hat eine lustige Haube auf. Der Regisseur spricht recht laut zu ihr, macht Smalltalk, und sie gibt bereitwillig Auskunft. Zunächst vermutet man, da will etwas entlarvt werden. Provinzielle Kleingeistigkeit etwa, doch da sich der Fragende zurückhält, bliebe nur noch die Selbstentlarvung – die sich aber nicht einstellen will. Nein, nach diesem kurzen Gespräch über ein Blumenbeet steigt der Filmemacher wieder in seinen Wagen und fährt einfach davon.
Dann erst kommt der eigentliche, gesprochene Prolog dieses wie aus dem Bauch heraus gedrehten Films. Von Louis Malle in flüssigem, leicht französisch akzentuiertem, aber ansonsten tadellosem Englisch gesprochen: er sei eigentlich auf der Durchreise, aber diese Kleinstadt Glencoe habe ihn sofort eingenommen. Da sei er kurzfristig geblieben um ein Portrait dieses Orts in Minnesota zu erstellen; Glencoe, ein scheinbar typisches amerikanisches Nest mit etlichen Farmen, Kirchen, beflaggten Grundstücken und sauber gepflegten Rasenflächen. Im Folgenden interviewt Malle scheinbar wahllos alle Bürger, die ihm vor die Kamera kommen und die gewillt sind, mit ihm zu sprechen. Und das sind viele, denn die Menschen in Glencoe sind freundlich und offen. Zumindest auf den ersten Blick. Farmer, Polizisten, Rentner, Politiker, städtische Angestellte, ein gutgelaunter Rindviehbesamer („Ich habe schon 40.000 Kühe besamt!“), die Mitglieder einer Laientheatergruppe, Kellnerinnen und Supermarktbesitzer. Er wird zum Abendessen eingeladen oder darf den Alltag einer jungen Farmersfamilie begleiten, die sich vor der Kamera ganz natürlich gibt und mit großer Offenheit auf seine Fragen eingeht. Er erkundigt sich zu ihrer Herkunft, ihren Wünschen und Träumen, zum Alltag und den Arbeitsabläufen, wie man die Freizeit gestaltet und warum es keine Schwarzen in Glencoe gibt. Worauf die Antworten dann spärlicher ausfallen und sie durchaus zuzugeben bereit sind, dass in der Kleinstadt ein latenter Rassismus vorzuherrschen scheint. Jedoch ist hier kein Investigator am Werk: Malle hat es nicht darauf abgesehen, den Finger auf Wunden zu legen, Verdrängtes hervorzuzerren oder seine Gesprächspartner mit Tabuthemen zu konfrontieren. Denn diese Auslassungen und Ungemütlichkeiten thematisieren sich auch von selbst. Etwa im Gespräch mit einer jungen Frau, die mit 27 Jahren nach vorherrschender Meinung beinahe schon zu alt zum Heiraten sei, die dann, durch geschicktes Stichwortsetzen Malles angeregt, nicht allzuviel Positives über das Geschlechterverhältnis auf dem Lande berichten kann – und so, über Umwege, zum heiklen Thema Homosexualität und Rassismus gelangt. Doch Malle bleibt zurückhaltend, fordert sanft heraus und bricht bald ab, da es der Frau sichtlich unangenehm ist, weiter über diese Themen zu sprechen. Der Filmemacher verrät seinen Betrachtungsgegenstand nie, was ihm hoch anzurechnen ist; allenfalls nimmt man einen feinen Hauch von unausgesprochener Ironie wahr, der sich zwischen den Zeilen und in den Bildern, also in den Gesichtern, lesen lässt. Und so reiht er ein Gespräch ans nächste, bis sich ein eigener Kosmos zu vervollständigen scheint, und der Betrachter in den Zeitsprung entlassen wird.
Denn in den letzten 10 Minuten des Filmes findet Malle zu einer Art Résumée, wenn er sechs Jahre später in die Ortschaft zurückkehrt. Wieder trifft er die ergraute Dame, nun 91 Jahre alt, in ihrem Vorgarten, und sie erinnert sich lebhaft an ihn. Das Wiedersehen ist herzlich. Die Besuche bei den anderen Interviewten allerdings fallen weniger euphorisch aus. Man freut sich, den Franzosen mit der Kamera wieder zu sehen, doch die Stimmung ist gedrückt. Die Wirtschaftskrise unter Reagan hat sich verstärkt, die Einkommen der Farmer sinken kontinuierlich. Der wirtschaftliche Abschwung hat vielen den Job gekostet, die hart arbeitenden Menschen kämpfen um ihre Existenz. Und so wird ganz am Ende „Gottes eigenes Land“ zu einem politischen Statement zur Lage des Landes, das seine Bürger ernüchtert und erbost zeigt: ein Film der zerstörten Träume und verflogenen Hoffnungen. Vom großen Optimismus der Jahre zuvor ist nichts geblieben. „Gottes eigenes Land“ schließt mit der verbitterten Ernüchterung dieser durchweg sympathischen Menschen.