Liebe Schüler, heute lernen wir, wie man einen Menschen kaputt macht. Nur alle herein ins Klassenzimmer, aber Achtung, so bald lässt euch Regisseur Tetsuya Nakashima nicht wieder raus. Bei all der Unruhe, die eure lärmenden Mitschüler (unterstützt von Kamera und Tonspur) verbreiten, möchtet ihr den selbstsüchtigen Rotznasen wie ein Streber aus der ersten Reihe zurufen: Haltet die Klappe! Wo doch die Lehrerin am letzten Schultag, bevor sie den Dienst quittiert, etwas mitzuteilen hat. Zwei Schüler aus dieser Klasse, verkündet sie erschreckend ruhig, hätten ihre kleine Tochter ermordet. Ein Unfall, habe es offiziell geheißen, und sie, die Mutter, habe es dabei belassen, um die vom Gesetz geschützten Minderjährigen auf ihre ganz eigene Weise zu bestrafen: Damit sie den Wert des Lebens schätzen lernten, habe sie den beiden HIV-infiziertes Blut in ihre Milch gemischt. Kreischendes Klassenzimmer! Eben noch nuckelten die Gören genüßlich an ihren Milchtüten, Teenager brauchen schließlich ihre Extraportion Kalzium.
Seht nur, wie nun das Chaos ausbricht: Mobben der Mordverdächtigen, Aidshysterie, Amokphantasien! Dabei agieren die Schüler in Uniform, die einzig ihre Einsamkeit eint, immer wieder wie Schlafwandler in Zeitlupe – unfähig, ihrem Schicksal und der in tristen Farben gezeichneten Hölle, die da Schule heißt, zu entrinnen. So wie ihr unfähig seid, euch dem imposanten Bildersog und dem überbordenden Soundtrack von Bach bis Radiohead zu entziehen. Selbst die modernen Kommunikationsmittel haben die Strippenzieher in ihre pompöse audiovisuelle Choreographie einbezogen.
Wenn ihr gut aufgepasst habt, wisst ihr, dass Rache kein seltenes Motiv im (japanischen) Kino ist, aber selten wird es so subtil verfolgt wie von der pädagogisch geschulten Protagonistin, die auch ihren lächerlichen Nachfolger, der Kumpel aller Kinder sein will, als Marionette für ihre grausamen Spielchen benutzt. Da wird eben selbst Milch zum Horrorelement – für reichlich Blut sorgen dann die Psychokriegsopfer schon selbst. Bekommt ihr nun Mitleid mit euren wohlstandsverwahrlosten Klassenkameraden? 'Niemand sagte mir, dass es falsch ist, zu töten', rechtfertigt sich der Jugend-forscht-Gewinner mit Mutterkomplex. Doch wenn hier tatsächlich jemand einen Anflug von Gewissensbissen erkennen lässt, heißt es hinterher: Just kidding!
Dieser Film ist so herrlich unmoralisch, dass er unbedingt auch Zuschauern unter 18 zu empfehlen ist. Lektion 1: Traut keinem Lehrer. Lektion 2: Traut keinem Schüler. Lektion 3: Vertraut aufs japanische Kino.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2011