Eltern sind bei Astrid Lindgren eher schmückendes Beiwerk und bei Pippi Langstrumpf, ihrem berühmtesten literarischen Kind, sind sie gar störend, nervtötend oder lächerlich. Aber gerade hierin liegt natürlich Pippis Mission und pädagogischer Auftrag. Sie ist das kathartische Element, das dem grauen Kinderalltag fehlt, das ohne die Lindgren fehlen würde; mit Pippi erleben die durchregulierten und gelangweilten kleinen Geschöpfe, was sie eigentlich immer mal erleben wollten, jedoch nie zu machen gewagt hätten. Pippi trägt mal einen Bart aus Nudeln, mal geht sie mit ihren überdimensionierten Schuhen ins Bett, mal benutzt sie dasselbe so lange als Trampolin, bis es zusammenkracht; und ständig fliegt sie vermittelst möglicher und unmöglicher Hilfsmittel, wie z.B. einem Fahrrad ohne Räder durch die Lüfte. Pippi verweigert sich allen möglichen Normen und Regeln, und sie macht nicht mal vor den Naturgesetzen halt. Pippi gilt heute als Urfeministin und Autonome, und wenn es wahr sein sollte, dass Lindgren mit Pippi Langstrumpf die erste Punkerin in der Geschichte geschaffen hat, dann gab es Punk schon während des Zweiten Weltkrieges, nämlich 1941, als Lindgren ihrer kranken Tochter die ersten Pippi-Geschichten erzählte, deren gedruckte Erstveröffentlichung im Jahr 1945 erfolgte. Heute ist Pippi Langstrumpf eine Kinder-Institution und ein Traumberuf: beim Kindergartenfasching tauchen ungefähr so viele Pippi Langstrumpfs auf wie Cowboys oder Hexen.
Sich des grauen Kinderalltags entheben können Kinder jedoch nicht nur mithilfe der weltberühmten drei gedruckten Pippi-Hauptwerke, sondern auch durch deren filmisches Äquivalent, der schwedisch-deutsch koproduzierten Fernsehserie mit Inger Nilsson in der Titelrolle. Wer, wenn er den Namen Pippi Langstrumpf hört, sieht nicht automatisch die rotbezopfte Inger Nilsson vor sich, dieses mitunter geradezu aufsässig unorthodoxe und rotzig grinsende Mädchen?
Und selbiges hält nicht inne, seinesgleichen zu unterhalten und zu entspannen. Auch vierzig Jahre nach dem Entstehen der Pippi-Langstrumpf-TV-Serie (deren Master of Ceremonies seines Zeichens ein gewisser Olle Hellbom war, ein dezidierter Lindgren-Freund und -Regisseur, leider viel zu früh an Magenkrebs verstorben) erkannte die DVD-Firma „Universum Kids“ (nicht zu verwechseln mit „Universal Kids“) die kommerziellen Gewinnchancen einer kompletten DVD-Verewigung des TV-Langstrumpf-Vermächtnisses, welches – trotz seiner nur zwei Jahre Entstehungszeitraums von 1968 bis 1970 – schon lange Mythos war und weit über seine Zeit hinaus wies.
Kurioserweise gab und gibt es in Schweden von dieser Fernsehserie nur 13, in Deutschland aber 21 Teile, und der Grund dafür liegt in den jetzt auf DVD aufgelegten zwei mal 4 Folgen „Mit Pippi Langstrumpf auf der Walze“ und „Pippi und die Seeräuber“, die kleinkindgerecht portionierten Fernsehfassungen der vorab schon in den Kinos gelaufenen Spielfilme „Pippi außer Rand und Band“ und „Pippi in Taka-Tuka-Land“.
Was hier also rezensiert wird, ist das gleiche Grundmaterial wie in den genannten Spielfilmen, nur neu synchronisiert und irreführenderweise mit abweichendem Titel unterlegt und mehr oder weniger sinnvoll nachträglich in künstliche Episoden zerlegt. Falls man die beiden Kinofilme schon besitzt, ist die Anschaffung der TV-Version sicherlich eher überflüssig und falls man sie nicht besitzt, ließe sich darüber nachdenken, ob die episodale Verabreichung für kleine Kinder (Empfehlung: ab 5 Jahren) nicht die bekömmlichere ist als die komplett anderthalb Stunden Spielfilmlänge; runder und sehtauglicher aber sind beide Filme natürlich en bloc, davon abgesehen, dass der weitaus gelungenere „Urfilm“ davon „Pippi außer Rand und Band“ (in der TV-Version also die Folgen 14-17 „Mit Pippi Langstrumpf auf der Walze“)ist.
Die Handlung des Films/der Serienfolgen soll, so kann man nachlesen, sich stärker an Motive des Kinderbuchs halten als das bei „Pippi in Taka-Tuka“ der Fall ist, und das meint man auch zu spüren: Die Texte sind durchweg witzig und die Erlebnisse von Tommy und Annika, die zusammen mit Pippi von Zuhause ausreißen DÜRFEN, sind durchweg spannend, ohne dabei übermäßige Angst zu erzeugen, was bei den Piratenfolgen eher programmiert ist. Highlights der Ausreißer-Geschichte sind Pippis Wasserfall-Fahrt in einem Fass und „Konrads Alleskleber“, mit dem man auch an der Decke spazieren gehen kann. „Pippi und die Seeräuber“ (TV-Folgen 18-21) fällt dagegen ab ins Mediokre, der exotische Background kann nicht über eine schleppende, z.T. chaotische, z.T. ungereimte Dramaturgie hinwegtäuschen. Kurz zur Handlung: Wieder einmal muss Pippi das Kindermädchen von Thomas und Annika spielen, weil deren Eltern ein paar Wochen verreist (!) sind. Da bekommt Pippi einen Hilferuf in Form einer Flaschenpost ihres Vaters Ephraim Langstrumpf, der sich in den Händen von Piraten befindet. Auf ihrer Reise begegnen sie übrigens dem im Film einigermaßen unbedeutenden Piraten Wolfgang Völz, der der See treu blieb und bekanntermaßen später zur Stimme Käptn Blaubärs avancierte, dem echten großen Weltumsegler Thor Heyerdahl und einer tonkonservierten Fernsehamsel, deren unverkennbarer Gesang in einer Endlosschleife während der kompletten siebziger Jahre sommerliche Außenszenen deutscher Fernsehunterhaltung untermalte: Besondere Vorliebe: „Der Kommissar“ oder „Derrick“. Dass sie es, wie hier mit „Pippi in Taka-Tuka-Land“ auch ins Kino schaffte, war mir bisher neu.
Pippis deutsche Stimme in allen 21 Folgen wurde von Eva Mattes geliefert, sie wiederum spielte später unter anderem in Klassikern des Neuen Deutschen Films, so bei Werner Herzog („Stroszek“), Rainer Werner Fassbinder („Die bitteren Tränen der Petra von Kant“) und 2002 ist sie zur Tatort-Kommissarin Klara Blum geworden. Rise and Fall kann man dazu nur sagen, aber das – wie so vieles andere mehr – gehört nicht unbedingt an diesen Ort …