Es sind überaus drastische Schicksale, von denen Regisseurin Maria Speth („In den Tag hinein“ (2001), „Madonnen“ (2007)) in ihrem ersten Dokumentarfilm erzählen lässt. Geschichten von seelischen und körperlichen Misshandlungen, Vergewaltigung, Drogensucht, familialer Gewalt und sozialer Isolation. Erzählt wird ebenso von Befreiungsschlägen, von dem Nullpunkt, der Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za, die sieben Protagonisten des Films, dazu verleitete, das Leben auf der Straße jeder Illusion von familiärer Sicherheit vorzuziehen. Das ist der grobe Rahmen, über den Speth ihre Charaktere arrangiert: die Portraits verschiedener Menschen zu entwerfen, die in Berlin auf der Straße lebten oder es immer noch tun. Zu Zeiten, in denen die Dominanz des Infotainments seinen Figuren keinerlei Wahrheit mehr zugesteht, sie stattdessen etwa vor stimmungsfördernde Kulissen platziert oder lieber gleich durch Schauspieler ersetzt, zeugt der stilistische Purismus Speths von großer Anteilnahme gegenüber den Sprechenden.
Der gesamte Bildapparat gehorcht der Prämisse, jede Suggestivmethode, jede Ablenkung von den Worten zu unterbinden. In schwarzweißen, perfekt ausgeleuchteten Bildern (Kameramann Reinhold Vorschneider wirkte bereits bei den Filmen von Rudolf Thome („Die Sonnengöttin“, „Paradiso – Sieben Tage mit sieben Frauen“), Angela Schanelec („Marseille“, „<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Orly“), Benjamin Heisenberg („Schläfer“, „Der Räuber“) oder Thomas Arslan („<<TEXT:UNTERSTRICHEN>Im Schatten“) mit, ebenso bei Speths ersten beiden Spielfilmen) sprechen die Interviewten in einem weißen Studio auf einem Stuhl sitzend von sich: keine Musik (es sei denn, sie wird von ihnen selbst erzeugt), keine Außen- oder Archivaufnahmen, kein Dekor, keine weiteren Gegenstände (es sei denn, sie wurden von ihnen selbst mitgebracht) und dadurch auch kein Kontext, der als Mischung aus Vorurteilen und Stigmatisierungsprozessen die Aussagen unweigerlich zu Symptomen verklärt. Was den Dokumentarismus des Fernsehbeitrags mit seiner kruden Absicht einer Milieubeschreibung in der Regel so widerwärtig macht – dass er nämlich Repräsentanten und keine Individuen benötigt, auf die er dann mit den abgefeimtesten Mitteln der Dramaturgie einschlägt, bis das Schreckbild einer fremden Parallelwelt endlich grundiert ist und sich den Gesetzen der Dramaturgie unterordnet -, gerät hier durch den Rückgriff aufs Artifizielle zum Dokumentarismus einer Authentizität. Und die erzeugen einzig die Interviewten: durch Gesten, durch Kleidung, durch Sprache, durch musische Talente, die sie unter Beweis stellen, vor allem aber durch die Wahl, wovon sie überhaupt sprechen wollen. Ihre Namen erfahren wir erst recht spät und ihre Biographien entfalten sich nicht chronologisch. Dramaturgisch korrekt ist das nicht. Dadurch sprechen sie zugleich aber auch nicht einzig für und über das Umfeld, dem sie erwachsen sind, und in der Tat will beispielsweise das Klischee der jugendlichen Punkerin, die im bürgerlichen Elternhaus das Gymnasium besucht, Musikunterricht nimmt, gleichzeitig aber ein Doppelleben als Heroinsüchtige führt, bis sie sich endgültig für ein qualvolles Straßenleben entscheidet, noch geboren werden.
Ohne den filmischen Apparat, der Gesellschaft nicht beschreiben, sondern erzeugen will, bleibt einzig die Konzentration auf die posthumen Beschreibungen der meist noch jugendlichen Sprecher/innen. Man kann davon abstrahieren und die statistisch längst verifizierte These, dass der Mikrokosmos Familie der weitaus gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche ist, um physischen und psychischen Misshandlungen ausgeliefert zu sein, durch die Aussagen ein weiteres Mal in bedingungsloser Klarheit gestützt sehen. Man kann aber auch gleichfalls mit tiefstem Respekt zuhören, wie sich ein damals 14-jähriges Mädchen dazu entschloss, sich keinesfalls mehr vom neuen Partner der Mutter schlagen zu lassen und dafür die existenziellste Konsequenz der Armut in Kauf nahm. Über das Gespräch und einem sich nur ihnen verpflichtenden Raum wachsen die Figuren von der Variable zur omnipräsenten Biographie. Zweifel darüber, was mit aller Härte, Offenheit und Verletzlichkeit gesagt wird, wollen die Bilder, die ausschließlich Gesichter kennen, jedenfalls mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln des Films verhindern und aus den Portraits wird eine regelrechte Apotheose.