Mitten hinein in das Lebensgefühl eines 17-jährigen, künstlerisch veranlagten Jugendlichen taucht Xavier Dolans Spielfilm „J’ai tué ma mère“ (I killed my mother). Der 1989 in Montréal geborene Frankokanadier hat sein Debüt in Personalunion als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler realisiert und gilt unter Kritikern seither als cineastisches Wunderkind. Diese autobiographische Nähe zum eigenen Lebensstoff, verbunden mit einem erfrischend unverbrauchten, experimentierfreudigen Inszenierungsstil, sorgt für die besondere Authentizität und lebendige Unmittelbarkeit des Films.
Dabei arbeitet Dolan jedoch kaum mit verwackelten Handkamerabildern. Sein intimes Selbstportrait über die schier ausweglos erscheinende Hassliebe zwischen dem von ihm selbst gespielten 16-jährigen Hubert Minuel und seiner Mutter Chantale Lemming (Anne Dorval), die sich in ständigen Streitereien und hitzigen Wortgefechten ausdrückt, verdichtet die Stagnation dieser Beziehung vielmehr in statischen Tableaus. Insofern gleicht der Film mit seinen frontal aufgenommenen Dialogszenen, den angeschnittenen oder an den Bildrand gedrängten Figuren, den akzentuierten Räumen und Interieurs eher einem Gemälde als einem Roman, eher der Beschreibung eines Zustands denn der Entwicklung einer Geschichte.
Formal aufgelockert und in eine spielerisch leichte Schwingung versetzt wird dieses relativ starre Bildkonzept durch eingeschnittene, augenblickshafte Flashs, durch phantastische Tagträumereien, Visionen und assoziative Bildfolgen, in denen sich das subjektive Bewusstsein des Protagonisten ausdrückt. Daneben aber auch durch ein in Schwarzweiß gehaltenes persönliches Videotagebuch, in dem Hubert sein wütendes Verhältnis zur Mutter, seine Homosexualität und sein Aufbegehren reflektiert. Zitate von Guy de Maupassant, Jean Cocteau und Alfred de Musset verlängern diese Intimität, schaffen auf poetische Weise einen nachdenklichen Ausgleich zu den emotionalen Ausbrüchen und geben darüber hinaus Auskunft über den künstlerischen Kosmos des jungen Xavier Dolan. Der hat unter dem Titel „Les amours imaginaires“ (Heartbeats) bereits seinen zweiten Film abgedreht und veröffentlicht.