Der Gefangene Holger Meins stirbt am 9. November 1974 den Hungertod. »Eine Hinrichtung auf Raten«, hatte damals Rechtsanwalt Schily gesagt. Heute lädt »Starbuck Holger Meins« noch einmal zur Leichenschau. Kunstdozent Manfred Blessmann kommentiert die Autopsiefotos, die damals der »Stern« in der Anatomie aus entstellender Perspektive geschossen hatte. »Ein Alien«, findet Blessmann. Die Leichenteile scheinen falsch zusammengefügt. Aber, so empfiehlt er, man kann es auch positiv sehen. Außerirdisch sieht der Körper aus, wenn die Seele ihn verlassen hat und der »Übertritt« geglückt ist. – Halleluja.
Jugendfreund Blessmann dominiert in den inszenierten Teilen des Films. Regisseur Gerd Conradt zeigt ihn, wie er eine Wäscheleine abschreitet, an die Bilder des Kunststudenten Meins geklammert sind. Dünkelhaft und borniert kommentiert der Dozent die Arbeiten den lieben langen Film hindurch. »Man sieht nicht, wer Mann, wer Frau ist«, nörgelt er. Immerhin sehen wir im Film selbst den Holzschnitt, und es ist scheißegal, was die Figur für ein Geschlecht hat. Wozu also diese Andeutung? Na klar, damit Exfreund Conradt der Szene ein Pseudostatement ankleben kann, in welchem die Schauspielerin, die Meins’ Exfreundin spielt, sagt: »Der Typ kam auf Stöckelschuhen ins Zimmer.« Mag ja sein, dass Meins’ Exe sich von den besten Absichten leiten lassen. Die unterschwellig hämische Attitüde macht jedoch aggressiv. Gut, dass ich das nur auf der Leinwand gesehen habe. So bleiben die Pseudofreunde Filmbösewichter, und denen haut man bekanntlich nicht in die Fresse.
Ich möchte nun, nachdem der emotionale Überdruck entwichen ist, das affektive Ventil wieder schließen und meinerseits darauf kommen, dass man Conradts Film auch positiv sehen kann. Vor allem wenn Meins’ Vater ins Bild kommt, der einzige aufrechte und imponierende Mensch dieser Statementcollage. Er erzählt schnörkellos, wie er Holger, verhaftet, auf den Medienfotos gesehen hat, fast nackt, »kein Haar gekrümmt«. 36 Stunden später, auf der Krankenstation, neben sich den Vollzugsbeamten, riss er seinem Sohn die Bettdecke runter und sah den Körper »voller Blutergüsse, Quetsch- und Schlagwunden«. In diesen wenigen Vaterauftritten wird Holger Meins zum Helden des Films. Die RAF-Zeit wird in den Bruchstücken präsent, und mir lief es kalt den Rücken runter. Vater Wilhelm Meins hatte schon vor zwanzig Jahren in Conradts erstem Meins-Film eine Hauptrolle gespielt (»Holger Meins – Ein Versuch«). Es wäre eine Freundlichkeit gewesen, wenn der Zuschauer erfahren hätte, ob das, was er hört und sieht, von Conradt heute oder 1982 oder 1975 aufgenommen wurde. Wir dürfen uns das aussuchen, doch der angereicherte Meins-Remix hat sowieso den Zeitbezug verloren. Der Film interessiert sich nicht wirklich für das, worum es dem RAF-Kämpfer ging. Wir verbleiben auf dem Niveau von Personalien und Anekdoten.
Wie also kam Holger Meins zum Decknamen Starbuck? Da der Verhungerte nicht mehr plaudern kann, muss jemand anders ran, und das ist der seinerzeit zuständige BKA-Mann Alfred Klaus. Dieser gibt vor der Kamera launig und gütig lächelnd zum besten, wie ihm bei einer Zellenrevision die Meinhof in den Bauch trat, obwohl er ihr doch nur einen Kassiber weggenommen habe. Gudrun Ensslin hatte sich für Meins den neuen Namen ausgedacht: Starbuck, der Steuermann der Pequod in Melvilles »Moby Dick«. Schon kriegen wir im Film jemanden zu sehen, der in Steuermannspose auf Deck steht. Aber das ist nicht Holger Meins, sondern Kommissar Klaus. Er hat die Titelrolle usurpiert. Hoch aufgereckt durchpflügt er das Wasser, um ihn die unendliche Weite des Meeres – eine ausgeklügelte Einstellung, denn Klaus lebt in Hamburg, wir müssten eher auf der Elbe oder Alster sein, jedenfalls im Sendegebiet des Filmförderers NDR.
Was also lehrt uns die Apotheose des BKA-Beamten? Dass »Starbuck Holger Meins« ein Film für die Beamten der Begnadigungsabteilung im Bundespräsidialamt ist – wenn wir dem vertrauen dürfen, was der Regisseur in einem Interview gesagt hat. Also, pscht, nicht so laut, es geht doch darum, die RAF-Genossen, die noch einsitzen, freizubekommen: Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Rolf-Clemens Wagner, Rolf Heissler, Eva Haule, Birgit Hogefeld, Andrea Klump. Doch der Bundespräsident hat den Filmstart nicht abgewartet, um in diesem Jahr Adelheid Schulz zu begnadigen. Und bezweifeln darf man, ob der ewig gütig lächelnde, wiewohl etwas schmallippige Klaus der rechte Befürworter ist. Er spricht noch heute von der »Mörderbande RAF«, öffentlich, und das nimmt nicht wunder, jedoch eher schon, dass Conradt ihn als Begleiter für die Lesetour auserkor (Starbuck – Holger Meins, das Buch). Irmgard Möller hatte sich daraufhin in der »Taz« gefragt, wie es möglich sei, dass jemand seine Erinnerungen an Holger grade Conradt anvertrauen kann.
Conradt klagt in der Tat über eine Vielzahl von Absagen. Vielleicht liegt es daran, dass einer wie Rainer Langhans jetzt ungehemmt ins Bild kommt und von den Zeiten der Kommune 1 schwärmt, »das Matratzenlager, Holger in der Mitte, morgens die ›Bildzeitung‹ geholt, er ein Sorgenkind mit wechselnden Zuständen, weich, liebebedürftig, umschlagend in gefährliche Aggressivität … Er führte Krieg gegen sich selbst und nicht gegen andere.« Meins’ Weg in die RAF: ein Psychoproblem? Für die Mitstudenten an der Berliner Filmakademie war Meins im Jahr 1968 »weich, lieb und unschuldig« (Michael Ballhaus), »the wild time was fantastic to me, the revolution time was wonderful« (Wolfgang Petersen), »ich ging mit ihm ins Rolling-Stones-Konzert, wir hangelten uns mit Bettlaken von der Empore runter direkt auf die Bühne«, weiß die Exfreundin zu berichten. – Und dann? Der Mao war’s! »Danach lag Holger nur im Bett und las die Worte des Vorsitzenden. Es war deprimierend.« Der Film malt die Nachteile der Politisierung aus. Erstens ist die künstlerische Kreativität weg. Zweitens kleidet sich Meins schlecht. Und drittens achtet er nicht auf seine Gesundheit: »Du musst frühstücken. Das ist die Pflicht eines Revolutionärs«, will Peter Lilienthal ihn belehrt haben.
Im Printmedium wären wir in der Rubrik »Leute«. Meins ein verhinderter Popstar? Die »aktionsgruppe starbuck – fraktion berliner filmstudenten 2001« hat seinen legendären Film »Herstellung eines Molotowcocktails« rekonstruiert. Doch die Filminserts zwischen den Psychostatements sind es, die den »Starbuck«-Film zur Zeit hin öffnen, in der Meins politisch gekämpft hat. Meins als Darsteller und an der Kamera in Bitomskis Film »Johnson & Co. – Feldzug gegen die Armut« (1968). Eine Frau erschießt den Bankdirektor. Das ist ein Lehrfilm, eine Parabel. Die Charaktermasken sind weiß geschminkt, der Text kommt als Traktat. Wir haben die Zeit der Botschaften. Die Inserts wirken zwischen Conradts talking heads erfreulich deplaziert, und sie sind kräftig genug, zu transportieren, was Conradt/Klaus blockieren.
Wer will, kann sich aus dem »Starbuck«-Material seinen eigenen Film machen. Ich versichere hiermit, dass es geht. Conradts Film ist, um zum Schluss noch einen versöhnlichen Satz zu sagen, unabgeschlossen genug.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 05/2002