Zu Beginn, recht aufdringlich, aber nicht ohne Charme: Rilkes „Der Panther“, vorgetragen und interpretiert in einer französischen Schulklasse. Kurz darauf: Der aus der Haft entlassene Strafgefangene erzählt seinem Freund etwas später, wie wichtig es nach einer längeren Isolationshaft war, dass andere Menschen einem versicherten, noch am Leben zu sein. Wenig später, in der Schule, geht es darum, dass Literatur vor Augen führt, dass ein anderes Leben möglich ist. Ein anderes, kein notwendig besseres.
Vielleicht trägt die französische Filmemacherin Sarah Leonor in ihrem Spielfilmdebüt „Au voleur“ etwas zu nachdrücklich zu unmissverständlich auf, worum es ihr zu tun ist, aber dafür ist sie selbst auch konsequent. Was als Milieustudie beginnt, entwickelt sich nach einer zufälligen Begegnung zu einer eher flüchtigen Liebesgeschichte: der Dieb Bruno hatte der nach einem Unfall bewusstlosen Aushilfslehrerin Isabelle zwar geholfen, aber die Gelegenheit auch genutzt, um sie zu bestehlen. Als man sich später in einer Kneipe erneut begegnet, kommen die beiden eher mühsam ins Gespräch und gehen dann gemeinsam in ihre Wohnung. Erst später, als die Polizei Bruno auf den Fersen ist, beginnt die »Liebe auf der Flucht« – und wie die Flüchtigen biegt auch der Film einfach von der Hauptstraße auf einen Feldweg ab. Doch während der Fluchtwagen bald im Morast stecken bleibt, geht die Reise von Bruno und Isabelle weiter, erst zu Fuß, später dann zu Wasser. Plötzlich befindet sich das Paar in einer urwaldartigen Flusslandschaft; die Milieustudie wird zur Robinsonade mit unerhörten Begegnungen und einem umwerfenden Gefühl von Freiheit, untermalt von geschmackssicher ausgewählter Folk-Musik. Doch das Abstreifen der zivilisatorischen Zwänge, daran lässt Leonor keinen Zweifel, ist nicht von Dauer. Der rousseauschen Idylle ist in sentimentalischen Zeiten keine Zukunft beschieden: wenn das Boot nach langer Zeit wieder in die Stadt hineintreibt, ist die kurze Liebesgeschichte zwischen Isabelle und Bruno beendet. Aber immerhin hat das Paar zuvor noch ein ausgesprochen schönes Abenteuer erlebt.
Der Mut und die Konsequenz der Filmemacherin, ihre Genre-Geschichte unvermittelt ins Poetische umzuleiten oder sich der Magie des Poetischen anzuvertrauen, zeugt von einem Talent, das künstlerische Risiken souverän meistert, indem es sich auf die Intensität der Atmosphäre der Flusslandschaft und das packende Spiel ihrer Hauptdarsteller verlässt. Am Ende hat der Zuschauer fast vergessen, dass er es lange Zeit erwartete, es hier mit einem ganz anderen Film zu tun zu bekommen. Gesprochen werden muss noch vom männlichen Hauptdarsteller! Bruno wird gespielt von Guillaume Depardieu, der im Oktober 2008 im Alter von 37 Jahren nach einer langen Krankengeschichte gestorben ist. Wenn Bruno in „Au voleur“ »beschädigt« seine Kreise zieht, dann verleiht Depardieu, der hier wie der provokative Gegenentwurf zum barocken Vater erscheint, dieser Figur schon rein körperlich eine berückende Intensität. „Au voleur“ ist einer der letzten Filme Depardieus gewesen und man kann sich nicht sicher sein, ob der Film ästhetisch Kapital aus den körperlichen Handicaps des Schauspielers zu schlagen wusste oder ob der Schauspieler mit Hilfe des Zufalls die Gelegenheit zu einem »großen Abgang« bekam – und diese Chance nutzte. Der passende Song dazu ist jedenfalls zu hören: „Poor Wayfaring Stranger“. Da hat es den Anschein, der Film sei im Mississippi-Delta gelandet. Toll!