Wenn man seine Familie am Abend mit einem Elefanten im Wohnzimmer überraschen möchte, ist es sicherlich nicht sinnvoll, das Tier dort schon morgens abzustellen und lediglich unter einem Häkeldeckchen zu verstecken. So ähnlich verhält es sich mit „Hierro – Insel der Angst“, denn dem Psychothriller wird ein kaum überraschender Plottwist zum Verhängnis, und die allzu offensichtlichen Hinweise darauf verderben den Filmgenuss schon recht früh. Aber von vorne, denn eigentlich fängt ja alles ganz gut an.
Eine einsame, gewundene Landstraße, mitten in der Nacht. Eine Frau ist mit ihrem kleinen Sohn unterwegs und rast, als sei sie auf der Flucht. Die Musik dräut, und ebenso bedrohlich wird das Spielzeugauto des Jungen im Handschuhfach hin und her geschleudert. Mit einer Hand will die Mutter ihr Kind eben noch anschnallen, als sie plötzlich die Leitplanke durchstößt. Auto und Spielzeugauto schweben in Zeitlupe durch die Luft, krachen zu Boden, die Scheiben bersten. Als die Frau vom Tageslicht geweckt wird, ist sie allein im Wrack und schwer verletzt. Von ihrem Kind keine Spur.
Wer nach diesem aufregenden Auftakt erwartet, jetzt die Geschichte dieser Frau und ihres Verlusts erzählt zu bekommen, erlebt eine Überraschung, denn plötzlich scheint die Erzählung neu anzusetzen. Nun geht es um eine ganz andere Frau, die eine ähnlich schreckliche Erfahrung macht: Die allein erziehende Maria Vara will mit ihrem Sohn Diego zur Kanaren-Insel Hierro übersetzen und dort Urlaub machen. Sie schläft auf der Fähre mit dem Kind im Arm ein, und als sie aufwacht, ist es verschwunden. Die Polizei findet keine Spur des Jungen. Traumatisiert kehrt Maria zurück zu den Scherben ihres alten Lebens. Später erhält sie die Nachricht, dass eine Leiche im Meer gefunden worden sei, möglicherweise ihr Sohn, und reist in Begleitung ihrer Schwester erneut nach Hierro. Bei der Identifikation schließt Maria aber aus, dass es sich um Diego handelt. Sie muss trotzdem noch ein paar Tage bleiben, bis ein richterlicher Beschluss für einen DNA-Test vorliegt. Ihre Schwester reist wieder ab, und Maria nutzt die Zeit, sich auf eine Spurensuche zu begeben.
Viele Psychothriller spielen ein doppeltes Spiel. Ganz allmählich zeigen sich dann Risse im vermeintlichen Geschehen, und es erweist sich, dass wir als Zuschauer den Täuschungen einer Figur aufgesessen sind, weil die Inszenierung geschickt verbarg, dass aus einer beschädigten Wahrnehmung heraus erzählt wurde, wir vielleicht sogar an einer Wahnvorstellung teilhatten. Auch „Hierro – Insel der Angst“ legt früh entsprechende Fährten. Regisseur Gabe Ibáñez bemüht sich um Ambivalenz und nutzt altbekannte Inszenierkonventionen. Doch leider ist sein Debütfilm noch weit davon entfernt, zu einem labyrinthischen Klassiker zu werden wie beispielsweise Nicolas Roegs „Don’t Look Now“ („Wenn die Gondeln Trauer tragen“, 1973), der ebenfalls vom Nachklang eines schrecklichen Verlusts erzählt.
„Hierro“ findet leider nicht die nötigen subtilen Mittel, um eine Unsicherheit über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Schon Marias Träume und Halluzinationen, in denen Wasser rückwärts fließt und sie ihren Sohn festhält, wirken überdeutlich. In einigen entscheidenden Szenen ist es dann die Kamera, die zuviel verrät – gerade indem sie nichts verraten will: Sie zeigt ein Gesicht nicht und legt umso mehr nahe, dass es dafür doch wohl einen guten Grund geben wird. Die Farbpalette des Films ist auf die Farben des Meeres beschränkt, erinnert an Algen und faules Seegras. Stimmungsvoll ist das auf alle Fälle, doch wenn auch in Marias Hotelzimmer alle Bilder an den Wänden das Meer und bedrohliche Wellen zeigen, müssen selbst Zuschauer mit nur wenig Plottwist-Erfahrung nicht mehr lange grübeln.
Wie in jedem Pointenfilm gibt es zum Schluss den Wendepunkt, an dem sich die Täuschung endlich auch der Figur selbst offenbart und sich die Realitätsverschiebung auflöst. Hier schreit einem der Film seine Pointe regelrecht entgegen und nutzt Rückblenden, um auch wirklich jedes Missverständnis aufzuklären. Zeitlupen, pathetische Musik und Atemgeräusche auf der Tonspur sollen die Emotionalität verstärken, doch letztlich verhält es sich leider ganz anders: „Hierro“ versucht nicht nur, den Elefanten im Wohnzimmer als Überraschung zu verkaufen, sondern erklärt auch noch ausführlich, dass und warum es sich um einen Elefanten handelt. Sieh mal hier: Stoßzähne! Rüssel! Trampelfüße! Die wirklichen Rätsel in „Hierro“ entstehen eher durch eine gelegentlich unpräzise Montage, denn bisweilen gelingt es Gabe Ibáñez nicht, seinen Film klar zu strukturieren, so dass einige Zeitsprünge und Ortswechsel unnötig (und ungewollt) verwirrend geraten.
Gut, es handelt sich um ein Debüt, und deshalb muss noch nicht alles rund laufen, und das richtige Maß darf auch mal fehlen. Viele Momente zwischen Mutter und Sohn sind zärtlich und berührend, und selbst die Kinderdarsteller nerven in keinem Moment. Schieben wir einen Großteil der Schuld deshalb nicht auf Regisseur Gabe Ibáñez und auch nicht auf den Drehbuchautor Javier Gullón, sondern zum Beispiel auf David Fincher und M. Night Shyamalan. Deren Filme „Fight Club“ und „The Sixth Sense“ wurden relativ zeitnah 1999 veröffentlicht und motivierten vermutlich gleich mehrere Generationen von Filmemachern, es mit unzuverlässigen Erzählern und wilden Plottwists zu versuchen. Die Ergebnisse dieses mutmaßlichen Wettbewerbs sind teilweise so skurril, dass der zwar nicht gelungene, aber klassische Versuch in „Hierro“ gar nicht so unsympathisch wirkt. Doch beim nächsten Film darf es gerne entweder ein richtig gutes oder mal ein überraschend unüberraschendes Drehbuch sein.