Die unauffällige Geborgenheit in den gewohnten Abläufen des Alltags und die besänftigende Ordnung des Geregelten spannt sich wie eine unsichtbare, aber vertraute Hülle um Anna (Alba Rohrwacher) und Alessio (Giuseppe Battiston). Das Mailänder Paar hat sich mit Arbeit, Freunden und mäßigen Vergnügungen funktionstüchtig in einer Normalität eingerichtet, die sich zumindest äußerlich einfügt ins gesellschaftliche Bild des kleinen Glücks. Um zu arbeiten, pendeln die beiden aus der tristen Peripherie ins geschäftige Zentrum; abends treffen sie sich hin und wieder mit Freunden oder sitzen vor dem Fernseher. Während Anna einen Kurs für Aquarellmalerei besucht, macht sich der praktisch veranlagte Alessio als Heimwerker nützlich. Im Leben der beiden gibt es zwischen Anspruch und Wirklichkeit kaum eine Differenz.
Silvio Soldini nimmt sich in seinem neuen Film „Was will ich mehr“ (Cosa voglio di più) viel Zeit, um das sozial-gesellschaftliche Gefüge seiner Protagonisten realistisch zu beschreiben. Zugleich infiltriert er ihren Alltag mit kleinen Störungen und subtilen Ahnungen, die einen fast unmerklichen Druck erzeugen und den Status quo in Frage stellen. So beginnt der liebevoll aufmerksame Alessio offen von einer Familie zu träumen, während die leicht unzufriedene Anna ihr geschäftiges Umfeld immer häufiger mit einer stillen Sehnsucht zu betrachten scheint, die aus einem Grundgefühl der Enge resultiert.
An einem Abend zitiert Alessio aus einer Jim Morrison-Biographie: „Manchmal reicht ein Augenblick, um das ganze Leben zu vergessen; und manchmal reicht ein ganzes Leben nicht aus, um diesen Augenblick zu vergessen.“ Zu diesem Zeitpunkt wartet Anna bereits gespannt auf eine Nachricht von Domenico (Pierfrancesco Favino) und damit auf die Erfüllung eines Begehrens, das sie in einem zufälligen Moment erfasst hat. Doch die ersten heimlichen Treffen mit dem verheirateten Familienvater aus dem Süden unterliegen inneren und äußeren Störungen, die die aufkeimende Leidenschaft dämpfen und in einen Zustand des Zögerns versetzen. So scheint es zunächst, als gebe es keinen Ort und keine Zeit für die verbotene Liebe.
Als Anna und Domenico schließlich für Stunden und Tage die grenzüberschreitende Flucht aus der Ordnung gelingt, entladen sich Unsicherheit und Anspannung in sexueller Gier, die Soldini ebenso intim wie freizügig inszeniert. Je stärker in der Folge ihre zunehmende körperliche und emotionale Abhängigkeit wird, desto schwieriger lässt sich ihre Leidenschaft in den geregelten Alltag integrieren. Um das Ungewöhnliche dem Gewöhnlichen möglichst unauffällig einzuverleiben, bedarf es immer öfters kleiner Lügen, Täuschungen und Heimlichkeiten. Gerade im Wechsel der Perspektive auf Domenico und seine Familie entwickelt Soldini dabei einen unterschwelligen Diskurs über die schmerzlichen Wechselwirkungen des Geldes und die von ihm erzeugten Abhängigkeiten. Spürbar wird das etwa, wenn die Rechnung für das Hotelzimmer der Liebenden in Relation gesetzt wird zu den Kosten einer Kinder-Impfung. Die gewöhnliche Notwendigkeit behauptet hier unausgesprochen ihr Recht gegenüber einer außerordentlichen Leidenschaft.