Sagt ein Kollege beim Verlassen des Kinossaals: „Na ja, dafür bin ich wohl nicht Buddhist genug!“ Sagt die Begleiterin: „Wenn ich gewusst hätte, in was für einen Film du mich schleppst, wäre ich lieber shoppen gegangen!“ Sagt die Redakteurin der Tageszeitung: „Beschränken sie sich auf ein, zwei Schauspielernamen, die kennt hier doch eh kein Mensch!“ Der Filmkritiker-Kollege der Tageszeitung, der aus Cannes berichtete, hatte sich im Laufe der Woche seine Favoriten zusammengeschrieben. Als die Goldene Palme schließlich überraschend an „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ ging, war er beleidigt. So beleidigt, dass sein retrospektiver Kommentar zum Festival 2010 ganz ohne den Namen des Gewinners auskam: Apichatpong Weerasethakul. Cristina Nord hat in einem Text zur Filmkritik in „Revolver“ #14 ähnliche Dinge berichtet. Vor Jahren! Von Kollegen, die nicht mehr bereit sind, sich auf nicht-narrative Filmlogiken einzulassen. Von Redakteuren, die keine Lust mehr haben, Filme jenseits des Mainstreams zu vermitteln. Apichatpong Weerasethakul. Immer wieder der running gag, wie man lernte, diesen Namen unfallfrei auszusprechen. Wer will, darf auch „Joe“ zu ihm sagen. Ist das lustig?
Der Vorteil des Schreibens für ein Filmmagazin gegenüber dem Schreiben für eine Tageszeitung ist, dass hier jetzt der klinkenputzende Staubsaugervertreter ausfällt. Ich muss hier nicht umständlich erklären, wer Apichatpong Weerasethakul ist, muss nicht seine Filmografie rekapitulieren, muss nicht schreiben, dass der Thailänder nicht nur ein Architekturstudium, sondern zudem einen Abschluss am Art Institute von Chicago im Fachbereich Film gemacht hat. Hallo? In Chicago! Ich muss nicht die Preise aufzählen, die er mit seinen Filmen in den vergangenen Jahren auf renommierten Festivals errungen hat. Cannes! Nicht schreiben, dass wir es hier nicht mit einem wunderlichen Exoten zu tun haben, sondern sehr wahrscheinlich mit dem wichtigsten Filmemacher des vergangenen Jahrzehnts. Jedenfalls, wenn wir von Festivalöffentlichkeiten und der Schnittstelle zwischen Kunstbetrieb und Film sprechen.
Kunstbetrieb und Film. „Uncle Boonmee“ ist ein nachgetragenes Modul der Installation „Primitive“, die 2009 auch im Münchener Haus der Kunst zu sehen war. Dort waren andere Aspekte eines Arbeitszusammenhangs zu sehen, darunter der vorausweisende Film „A letter to Uncle Boonmee“. Das Haus der Kunst zählt nun auch zu den Geldgebern des Kinofilms „Uncle Boonmee“; die Liste der Co-Produzenten ist lang. Der Film und sein Arbeitszusammenhang wurden inspiriert von einem Buch, das von Uncle Boonmee erzählt, dem es gelang, durch Meditation Bilder seiner früheren Leben zurückzurufen. Die dann wie ein Kinofilm abliefen, betont der Filmemacher. Es geht in „Uncle Boonmee“ ums Sterben, um Seelenwanderungen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen, um Geister, die aus dem Dschungel treten und sich an den Tisch setzen. In Szene gesetzt allerdings an einem konkreten Ort, dem Grenzgebiet zu Laos, wo zwei Jahrzehnte ein Klima politischer Unterdrückung und Gewalt herrschte. Im Film erzählt Uncle Boonmee einmal, dass sein Leiden die Strafe dafür sei, dass er so viele Kommunisten umgebracht habe. Zugleich betont Apichatpong im Presseheft zum Film, dass der Film durchaus zahlreiche autobiografische Momente enthalte und zudem durch bestimmte Motive und die Auswahl der Darsteller auch mit seinen anderen Filmen intertextuell vernetzt sei. Muss man das wissen, um „Uncle Boonmee“ zu verstehen? Muss man „Uncle Boonmee“ »verstehen«? Ist nicht das Kino immer schon ein privilegierter Ort gewesen, um einen Blick auf fremde Lebenswelten zu werfen? Oder sich von einem fremden Blick auf Dinge lenken zu lassen, die man so vielleicht noch nicht wahrgenommen hat. Hat der türkische Film „Bal – Honig“ nicht gerade zu einer Reise in die Wälder der türkischen Schwarzmeerküste eingeladen? Ging nicht die Reise mit „Birdwatchers“ vor gar nicht allzu langer Zeit den Amazonas hinauf? Wann kommt man schon einmal in ein entlegenes Andendorf wie in „Madeinusa“ von Claudia Llosa? Geht es im Kino nicht immer auch um Seh-Erfahrungen?
Und jetzt also Thailand, an der Grenze zu Laos. Uncle Boonmee, schwer nierenkrank, ist zum Sterben nach Hause gekommen. Seine letzten Tage will er im Kreise von Verwandten und Freunden verbringen, betreut wird er von Tong, einem Laoten von der anderen Seite des Mekong. Der Film sammelt eher Impressionen als dass er erzählt. Mal folgt die Kamera einem Büffel, der in den Dschungel hineinläuft und wieder eingefangen werden muss; mal sehen wir komische Szenen über Verständigungsprobleme. Eines Abends, im Zwielicht, sitzt plötzlich der Geist von Boonmees verstorbener Frau am Tisch und erzählt vom Jenseits. Nein, es gebe keine Gegen-Gemeinschaft der Geister, erzählt sie. Die Geister hängen eher an den Lebenden denn an ihresgleichen. Was für die Liebenden bedeutet, dass es kein Wiedersehen nach dem Tode gibt. „Der Himmel wird überschätzt“, sagt der Geist der Toten. Sie muss es wissen. Plötzlich sitzt der verschollene Sohn am Tisch. Der fotografierte einst einen Affengeist, folgte diesem in den Dschungel, paarte sich mit dem Affengeist und wurde selbst einer. Affengeister haben empfindliche Augen, man löscht besser das Licht, wenn man mit ihnen am Tisch sitzt. All dies findet verblüffend selbstverständlich statt, unspektakulär. „Uncle Boonmee“ handelt von Grenzen und ihren Übergängen, von Schwellen, die man überschreitet. Hell, dunkel, Dämmerung, dazu der Sound des Dschungels, das satte, undurchdringliche Grün. Wer hier auf logische Anschlüsse vertraut, verliert schnell die Orientierung – aber nicht die bannende Faszination, was es hier alles zu sehen und hören gibt. Und zu schmecken, denn auch der Honig, den Boonmees Schwägerin aus Tamarinde produziert, ist süßsauer. Wird gesagt. Und schließlich öffnen sich die Transiträume auch noch zwischen Gegenwart und Geschichte, wenn eine ältliche Prinzessin an einen Wasserfall kommt, im Wasser ihr junges, schönes Gesicht (wieder-)sieht, ins Wasser steigt, sich ihrer Kleider und ihres Schmucks entledigt und Sex mit einem Wels hat, der vielleicht die Reinkarnation eines früheren Geliebten ist. Vielleicht. Möglicherweise. Und dann ist da noch die Reihe von Standfotos junger Soldaten, denen sich ein Affengeist beigesellt hat. Gruppenfoto mit Affengeist.
Wo solcherart alles im Fluss ist, trifft dies auch auf den Tonfall des Films selbst zu, der mal geheimnisvoll, mal still beobachtend, nie wertend und kommentierend und ab und an durchaus komisch ist. Und der sich für den Schluss eine abenteuerliche Volte aufgespart hat, die ganz leichthin und naiv gemacht ist, aber staunen macht über die Möglichkeiten, die das Kino noch hat. Jenseits des konventionellen Erzählens. Man wünschte sich diesen Film zwei, drei Stunden länger.