Einerseits ist die Geschichte ja ganz einfach. Man kann sich durchaus selbst einen Eindruck der Produktionsumstände zum inkriminierte NS-Propagandafilm „Jud Süß“ von 1940 machen, wenn man sich dafür interessiert. Es gibt Literatur zum Thema, die im Übrigen auch hoch differenziert all jene Positionen spiegelt, die jetzt auch bei der Gespensterdebatte um Oskar Roehlers Film „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ durch die Feuilletons wandert. Es gibt Verurteilungen Harlans (nicht zuletzt durch dessen Sohn Thomas, der einmal gesagt hat, wenn man als Künstler merkt, dass die eigene Kunst zum Mordwerkzeug taugt, gebe es keine Alternative zum Aufhören) und Versuche, ihn zu exkulpieren, indem man seine Melodramen gegen seine Propagandafilme ausspielte oder auch – im Stile der Totalitarismustheorie – Harlans Filme gegen die von Eisenstein ausspielte. Interessanter schienen jedoch diejenigen Ansätze, die versuchten, die Gemeinsamkeiten zwischen den Melodramen und den Propagandafilmen im Melodramatischen zu suchen. Und hier kommt Oskar Roehler ins Spiel, dem es ja gelungen ist, auf den Spuren Fassbinders oder auch Schlingensiefs („Mutters Maske“) die Form des Melodrams durch Trivialisierung und Theatralisierung aufzuheizen, was Filme wie „Suck my Dick“ oder „Agnes und seine Brüder“ ziemlich einzig in der deutschen Filmlandschaft dastehen lässt.
Laut Presseheft wurde Roehler als Regisseur für „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ gerade deshalb ausgewählt. Sagt der Co-Produzent: „Der Hauch von Wahnsinn, der seine Filme durchweht, ist für dieses Thema genau richtig. Sonst würde man in der Angst ersticken, bloß nichts falsch zu machen.“ Womit wir beim Thema wären. Scheiden sich doch nicht nur in der Kritik die Geister darüber, womit wir es bei „Jud Süß-Film ohne Gewissen“ zu tun haben. Sondern auch die Macher haben durchaus unterschiedliche Perspektiven auf ihr Projekt. Wo der eine Produzent „Wahnsinn“ sieht, rühmt der andere Roehlers „kristallklare und beinharte Analyse deutschen Lebens“. Und weiter geht‘s mit dem Vorbehaltsfilm „Jud Süß“ von 1940, der ja eigentlich seit Jahrzehnten nur in geschlossenen Vorstellungen mit Einführung zu sehen sein sollte, aber problemlos im Netz zu sehen ist. Ist der Film ein Mythos? Unsichtbar? Manche Kritiker schreiben jetzt, Harlans Film sei ein primitives, triviales Machwerk. Roehler sieht die Sache anders: „Ich war sehr überrascht. Ich hatte etwas anderes erwartet. Ich hatte mir den Film wesentlich plumper vorgestellt und erlebte plötzlich, wie gekonnt er mit Emotionen spielt, wie genau er besetzt ist, wie wirkungsvoll die Musik eingesetzt wurde. Veit Harlan schuf eine perfekte Illusion, man könnte seinen Film völlig durchgehen lassen als eine Geschichte, die in den reichen Salons spielt und wo der Bösewicht zufällig ein Jude ist. Wie beispielsweise in ‚Oliver Twist‘ von Charles Dickens oder in Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘. Das alles ist aber nicht entscheidend. Das zentrale Problem des Films ist, dass er von Anfang an Bestandteil einer perfiden Strategie war. Ein Rad im Getriebe des Holocaust.“
Man könnte in dieser Äußerung ein ambivalentes Verhältnis Roehlers zum historischen Film erkennen: die Anerkennung eines ziemlich durchtriebenen und funktionierenden Melodrams, das durch die Zeitläufte politisiert und mörderisch wurde. Fassen wir jetzt mal kurz zusammen: „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ ist ein SPIELfilm, ein fiktives Making of des Harlanschen „Jud Süß“ nebst einen biografischen Weiterungen, zentriert um die Figur des Hauptdarstellers Ferdinand Marian, für den diese Hauptrolle die „Rolle seines Lebens“ werden sollte. Aber Marian wollte diese Rolle nicht – und auch von Harlan selbst ist überliefert, dass er lieber einen anderen Stoff verfilmt hätte. Aber Goebbels hatte die Vorstellung von einem antisemitischen Film, der auch als künstlerisch wertvoll durchgeht. Eine Antwort des Nationalsozialismus auf die bewunderten Filme der Amerikaner und der Russen. Und deshalb arbeitete mit, wer damals Rang und Namen hatte: Heinrich George, Eugen Klöpfer, Kristina Söderbaum, Hilde von Stolz, Albert Florath, Otto Hunte etc. Und eben auch Ferdinand Marian, der von Goebbels zwar „mit einigem Nachhelfen“ (Goebbels-Tagebuch) überredet werden musste, der aber als Frauenschwarm galt und sich als Verführer in Filmen wie „La Habanera“ und – nach „Jud Süß“ – in „Romanze in Moll“ profiliert hatte.
Sieht man Marian in Harlans „Jud Süß“, so hat auch hier seine Rolle als Verführer-Rolle angelegt, wodurch sein Spiel etwas Mephistophelisches bekommt. Genau diese Dimension entzieht Roehler in seinem Film Marian und zeigt ihn als politisch desinteressierten, hilflosen, nicht sonderlich intelligenten, eitlen und jederzeit promisken Hallodri, der nicht aus moralischen Gründen das Rollenangebot zurückweisen möchte, sondern eher, weil er einen Image-Schaden befürchtet. In Interviews hat Roehler betont, ihm sei es darum gegangen, die Tragik der Figur zu zeigen. Einer Figur, die sich auf ein Spiel einlässt, das ein paar Nummern zu groß für sie sei. Dieser Ansatz hat es allerdings nicht in den Film geschafft, der keiner seiner Figuren die Größe für Tragik zugesteht. Hier gibt es lauter eitle, mitunter unbedarfte Menschen, die es sich im Schatten der Macht gutgehen lassen! Menschen, die sich irgendwie durchlavieren wollen nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Und vor allem gibt es Künstler, die sich eingerichtet haben in den Verhältnissen, die mitspielen, aus Eitelkeit, Karrieregeilheit, Dummheit, Zynismus, aber gerne mit Hang zur pathetischen Geste. Wobei zwischen all diesen Dingen nicht sonderlich geschieden wird, weil die Grenzen fließend sind. Roehler zeigt all dies holzschnittartig, als knallige Kolportage aus tausendmal gesehenen Bildern, Szenen und Konstellationen.
Und das Resultat ist dann doch erstaunlich doppelbödig und bemerkenswert riskant. Denn es kann ja nicht einfach als ausgemacht gelten, dass sich der Untertitel „Film ohne Gewissen“ nur auf den Harlan-Film von 1940 bezieht. Was bedeutet es aber, wenn man einen Film über einen Film dreht, bei dem einst die Nazis die Creme de la creme der in Deutschland gebliebenen Schauspieler einsetzten – und man selbst tut es dem Film nach – und besetzt all die Schauspieler, die Bernd Eichinger auch immer auswählt, wenn er den „Untergang“ oder den „Baader Meinhof Komplex“ drehen will. Man kann nur staunen, wie gnadenlos Roehler mit dem Typus des „Schauspielers“ ins Gericht geht, wie auch Goebbels kurzerhand in einer der schönsten Szenen des Films zum (verhinderten?) Schauspieler und Bonvivant erklärt wird, wie mühelos der Film Geschichte und Gegenwart in Beziehung setzt. Hier kocht jeder sein eigenes Süppchen, pocht auf Privilegien – und als es einmal darum geht, dass jemand einen befreundeten Juden retten will (nicht etwa alle Juden), fällt Goebbels dem Bittsteller ins Wort: Jeder kenne schließlich einen netten Juden und – ratzfatz – plötzlich hätte man 80 Millionen netter Juden am Hals. 80 Millionen?! Darf man sich jetzt daran erinnert fühlen, dass die Goldenen Zitronen nach dem Mauerfall mal mit dem Song „80 Millionen Hooligans“ einen kleinen Underground-Hit hatten? Nimmt man solche Spreng-Sätze und addiert den dumpf-mörderischen Ausdruck in den Gesichtern der jungen deutschen Soldaten im Frontkino hinzu, dann muss man schon sagen: Roehlers Film ist schon sehr angewidert von den Menschen, die er hier porträtiert, und explizit deutschenfeindlich. Was der Original – „Jud Süß“ von 1940 – zumindest aus heutiger Perspektive in seinen Pogrom-Szenen übrigens auch schon war. (Nur zur Erinnerung: Der Jude als Verführer der Frauen und Kinder spukt schon sehr früh in den Köpfen der braven Stuttgarter Bürger herum. Von der fast schon komischen Keuschheit der Ehe zwischen dem Schreiber und der Tochter Sturms nicht zu reden. Es scheint, als benötige der temperamentvolle Jüngling all seine Energie für seine antisemitischen Ressentiments.) Der Tanz auf dem Vulkan speist sich aus eklatantem Menschenhass, Minderwertigkeitskomplexen und Impotenz. Ungleich stärker als um Moral kreist „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ um sexuelles Begehren – und zwar auf allen Ebenen. So wie Harlans „Jud Süß“ um die Verführung der Söderbaum zentriert ist (und der Aufstand gegen den Juden Oppenheimer aus der Erfahrung der Impotenz der Stuttgarter Bürger erwächst), so ist Roehlers Film geradezu eine Choreografie der Geilheit. Weshalb die häufig als geschmacklos kritisierte Szene vom Fick beim Luftangriff, bei der die arische Ehefrau des SS-Mannes, der im Osten den Holocaust abwickelt, den Schauspieler Marian dazu anhält, noch einmal die Rolle des Jud Süß Oppenheimer zu spielen, auch der Moment, an dem die sexuellen Energien des Films zusammenkommen. Hier ist Roehler ganz nah bei Pasolini und Schlingensief – und bei unserer Gegenwart.
Man hat Roehlers Film ein paar (durchaus vermeidbare) historische Fehler und Zuspitzungen vorgehalten, aber worauf gründet denn die Annahme, hier werde ein historischer Stoff »authentisch« rekonstruiert. (Man denke nur an die pointiert melodramatische Zuspitzung von Marians Tochter, die aus der Schule die „neuen“ Werte und das Horst Wessel-Lied mit nach Hause bringt und ihre »liberalen« Eltern sprachlos macht!) „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ erzählt von der psychischen Disposition des Mitmachens, erzählt von Sexualität und Entfremdung, von Masken und Fehl-Haltungen, von Karrieregeilheit und Selbstekel beim Blick in den Spiegel. Im Presseheft zum Film findet sich ein Statement des Produzenten Franz Novotny, das sich liest, als ginge es um Berlin Mitte, obwohl es um das „Leben in der Wohlfühldiktatur“ gehen soll: „Denn das Leben in der Spaßgesellschaft der 30er sah ganz anders aus, als wir es wahrhaben wollen: Smarte urbane Menschen suchen Vergnügen, Mercedesfahren ist auf den breiten Chausseen ein Heidenspaß, die Restaurants sind ein Genuss, die Mädels werfen sich einem an den Hals, es ist einfach berauschend als erfolgreicher, junger Aufsteiger in dieser deutschen Stadt Berlin zu leben. Wir sind beim Film! Wir können Karriere machen, Hitler und Goebbels geben uns die Chance! Dafür nimmt man einiges in Kauf, Kleinigkeiten wohl, bei denen man wegsehen kann. Das bisschen Uniform, das mit den Juden, das gibt sich wieder. (…) Wir nehmen die Korrektur vor: Es war pfiffig und angenehm, sich zu den passiven und den aktiven Befürwortern des Systems zählen zu können. Man hat sich‘s bis weit zum Untergang sehr gut gehen lassen.“ Man wüsste allzu gerne, ob die Schauspieler, die hier ihre opportunistischen Vorgänger mit Verve bei ihrer Arbeit und in ihrer Freizeit zu porträtieren wussten, zumindest ahnten, auf welches böse Spiel sie sich eingelassen haben.
Wie man es dreht und wendet: man kommt bei diesem Film aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Man staunt über die Boshaftigkeit und die Verachtung, die der Film über Bande seinen eigenen Darstellern entgegenbringt. Man staunt über Kritiken, die nichts Besseres zu tun haben, als dem Film seine historischen Fehler vorzuhalten und darüber seine Qualitäten übersehen, so als müsste das Schmuddelkind Roehler in die Schranken gewiesen werden, wenn es ums Seriöse geht. Deutsche Geschichte ist hierzulande eben Chefsache – und der Chef zeigt uns, wie es wirklich zuging in deutschen Landen, die Menschen hinter den Monstern. Und dann liest man die etwas verzagten, mal defensiven, mal offensiven, mal hadernden Statements und Interviews der Filmemacher, vom Regisseur, vom Drehbuchautor, von den Produzenten, von den Schauspielern und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jeder an seinem eigenen Film gearbeitet hat, dass jeder Beteiligte eine andere Sicht der Dinge hat. Und das ist ja nun fast wieder wie bei „Jud Süß“, dem Original von 1940, der, wie Veit Harlan in „Im Schatten meiner Filme“ behauptet hat, den erbitterten Kampf eines Juden wider den grassierenden Antisemitismus zeige.