Hui, solch pittoreske Milieus kennt man hierzulande ja nur von RTL2 oder, wenn es zu spät ist, von der „Vermischtes“-Seite der Tageszeitung – und natürlich aus dem Kino, wenn das nächsten Kitchen-Sink-Drama durchgereicht wurde. Made in Britain. Mia (Katie Jarvis), 15 Jahre alt, läuft durch ihre trostlose Siedlung wie ein offenes Rasiermesser. Sie pöbelt, schlägt zu, trägt Tonnen von Wut in sich. Die Schule hat sie bereits hinter sich. Manchmal bricht sie in eine leerstehende Wohnung ein, um durch ein paar Tanz-Moves einzustudieren. Wir hören jetzt Nas mit „Life’s a bitch“ – und sieht man diese Lebensverhältnisse mit ihrer aufdringlich das Elend wegschminkenden Farbenpracht, dann glaubt man Nas jedes herausgepresste Wort.
Zunächst wundert man sich noch, woher diese Göre ihre Energie hat, doch dann lernt man ihre Familie (oder das, was davon übrig ist) kennen. Bei Mias noch recht junger Mutter (Kierston Wareing) ist die Wut auf die Verhältnisse bereits in Alkoholismus und einem Interesse an schmierigen Fummelparties umgeschlagen. Mias kleine Schwester ist auch so ein Herzchen, das immerhin zu Protokoll gibt, dass Mia die letzte sein werde, die sie beim Amoklauf erschieße. Weil sie sie so gern habe. Es ist ein herzerfrischender Rap, den die Filmemacherin Andrea Arnold („Red Road“) hier fast schon dokumentarisch festgehalten hat – als sei’s ein Film von Mike Leigh mit etwas Poesie als Dreigabe. In der Nachbarschaft steht ein angekettetes Pferd, das Mia wiederholt zu befreien versucht, was den jugendlichen Besitzern gar nicht passt. Das Pferd wird diesen Film nicht überleben. Gerade als man meint, man könne irgendwie absehen, was hier gleich geschieht, öffnet sich plötzlich eine Tür und Licht und Wärme strömen in den „Fishtank“.
Mias Mutter hat einen neuen Lover, der ein Alien zu sein scheint: Connor (Michael Fassbender) hört zu, weil er offenbar ein ehrliches Interesse an seinem Gegenüber hat. Er verfügt sogar über Ironie und Humor. Im Gegensatz zum bislang dominanten HipHop kommt jetzt klassischer Soul in den Film. Und etwas Reggae. Angesichts von so viel offenbar ehrlich gemeinter Empathie ist Mia erst sprachlos, doch dann öffnet sich das Mädchen und fasst Vertrauen. Die Annäherung zwischen der Tochter und dem Freund der Mutter mündet um ein Haar in Sozialkitsch nebst erwartbaren Eifersuchtsszenen, doch dann trinkt Connor eines Abends ein paar Bier zuviel und schläft mit Mia. Am nächsten Tag ist er verschwunden, doch Mia spürt ihn auf und entdeckt, dass sie bislang nur einen Teil der Persönlichkeit Connors kennenlernen durfte und reagiert fassungslos.
In diesen perspektivlosen Verhältnissen lauert hinter einem dünnen Firnis aus Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit immer die Option der Gewalt. Auf der Zielgeraden spielt der Film so überzeugend mit dieser Option, dass der Fortgang der Handlung ein ums andere Mal überrascht. Es läuft alles auf eine spektakuläre Explosion der Gewalt hinaus – was die bestehenden Verhältnisse untermauern würde. Weil man solche Geschichten ja zu kennen glaubt. In diesen letzten Minuten entwickelt der Film eine ganz erstaunliche rhythmische Wucht, wechselt permanent zwischen Macht- und Ohnmachtserfahrungen, blickt in dunkle Abgründe und verweigert dann doch das Spektakuläre, aber auch das Versöhnliche. Am Ende führt Mias Weg nach Wales – und für die Verhältnisse, die „Fishtank“ vorführt, ist Wales schon fast das Ende des Regenbogens. Großes, sozialkritisches Kino mit Wut, Wucht und etwas Herz am rechten Fleck. Ob es von der Hauptdarstellerin Katie Jarvis, die Andrea Arnold von der Straße wegcastete, als sie sich mit ihrem Freund stritt, eine weitere Performance geben wird, ist ungewiss. Sie wurde mit 16 Mutter. Wie im Film.