Er sei das „traurige Beispiel eines Lyrikers ohne eigene Sprache“ begründete Verleger Siegfried Unseld im Jahr 1966 seine Ablehnung einer Publikation von Ernst Jandls Gedichten im Suhrkamp Verlag. Am 6. 11. 1984 sitzt derselbe Siegfried Unseld begeistert in der ersten Reihe bei den Frankfurter Poetikvorlesungen, als Jandl ihm, vom Podium aus referierend, immerhin beinahe zwanzig Jahre später, erregt zurückgibt: „Ja, ich bin ein Lyriker ohne eigene Sprache, denn diese Sprache, die deutsche, wie jede andere übrigens […], gehört nicht dem Lyriker, nicht dem Dichter, nicht dem Schriftsteller, sondern allen, die in dieser und jener, jeglicher, Sprache, leben.“
„Das Röcheln der Mona Lisa“ ist jener zweite Teil der fünf Jandl-Vorlesungen betitelt, und der Untertitel (Die heruntergekommene Sprache) deutet an, worum es bei Jandl unter Anderem geht, darum, sich Sprache vom Leib zu halten, sie zu zerkleinern, um der (aller Menschen dieser) Sprache auf den Grund gehen zu können, ohne durch sie zu Grunde zu gehen, und um das Aufzeigen von etwas in der Sprache enthaltenen, von dem man vorher nicht wusste, dass es es überhaupt gibt.
Als Ernst Jandl, sechzigjährig, in Frankfurt seine fünfteilige Vorlesung „Vom Öffnen und Schließen des Mundes“ hielt, hatte er schon ein Leben voller, sich mitunter anscheinend widersprechender, revolutionärer, skurriler, sprachwitziger Schaffensphasen hinter sich, und er war an einem Punkt angelangt, an dem er – schon lange waren seine Gedichte in den Kanon der Deutschbücher aufgenommen – so bekannt war, dass er weder Freunde gewinnen musste noch Feinde provozieren konnte; so sehr ihm das vielleicht gefallen hätte .
Jandl wusste also genau, dass das Publikum wusste, wovon er sprach, wenn er über sich sprach, aber wenn er seine Bezugspunkte aufzählte, Hugo Ball, Kurt Schwitters, Dadaisten also, neben Bert Brecht, neben Christian Morgenstern, August Stramm, dem Expressionisten, dann wusste das Publikum noch mehr als vorher, dass nämlich Jandl kein komisches Unikum war, sondern ein bewusst selbstreflektierendes Glied einer Literaturtradition, die er in Bezug etwa auf die Konkrete Poesie bedroht sah. Anrührend und aufrührerisch ist der Moment, wenn er das Publikum dazu auffordert, ja geradezu darum bittet, selbst Gedichte zu schreiben, „weil das letzte Lautgedicht noch nicht geschrieben ist!“
Jandl wusste, wovon er sprach, und er wusste, wie Sprache und besonders wie Sprechen funktioniert. So ist seine Vorlesung ein Wechselbad von sprachlicher Analyse und abrupt hereinbrechender, lebhafter praktischer Umsetzung. Eine Analyse Jandlscher Art, die es mit jeder „seriösen“ Sprachwissenschaft aufnehmen kann. Jandl, promovierter Anglist und Germanist, Gymnasiallehrer zum Einen, und Dichter und begnadeter „Performer“, wie Dieter Bohlen es nennen würde, seiner Gedichte zum Anderen, bei den Frankfurter Vorlesungen konnte er zwei Vermächtnisse abliefern, eines der Literaturgeschichte und sein eigenes, als jemand, der durch, mit und in Literatur lebte.
Und natürlich besaß Jandl eine unverwechselbare, eigene Sprache, aber vor allem einen eigenen Ton: Niemand konnte und kann Jandl so vortragen, wie Jandl selbst.
Bei absolut Medien, als Teil der Edition filmedition suhrkamp, ist die fünfteilige Vorlesungsreihe „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ von Ernst Jandl am 17.7.2010, also zehn Jahre nach Jandls Tod und 25 Jahre nach ihrer Aufzeichnung durch den Hessischen Rundfunk, auf zwei DVDs für 29,90 €, versehen mit einem umfangreichen Booklet, erschienen.