„Warum erzählen wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichten?“

von Ulrich Kriest


Ein Gespräch mit dem Regisseur Christian Schwochow über seinen neuen Film „Westen“.

Ulrich Kriest: Ich habe „Westen“ auf dem Festival in Saarbrücken gesehen und jetzt noch einmal. Beim zweiten Sehen wird er noch interessanter, weil subtiler und vielschichtiger. Mir kam ein alter Film von Christian Ziewer in den Sinn. Dessen „Aus der Ferne sehe ich dieses Land“ spielt unter linken Exil-Chilenen, die sich in West-Berlin neu orientieren müssen. Der wurde 1978 gedreht. In diesem Jahr spielt jetzt auch „Westen“. Es herrscht in beiden Filmen eine vergleichbar farblose Atmosphäre von Kälte, Enge, Muffigkeit und Bürokratie.
Christian Schwochow: Diesen Film kenne ich leider nicht. Mir ging es darum, die Enge der Ankunft physisch spürbar zu machen. In diesen Notaufnahmelagern lebte man ja mit fremden Menschen auf engstem Raum. Das Lager war wie ein Organismus, der nie schlief. Man war immer in Begleitung von Menschen, auch, wenn man sie nicht gesehen hat. So farblos, wie es Ihnen erschienen ist, ist der Film übrigens nicht. Es ist sogar mein bislang farbigster Film geworden.

Warum erzählt man so eine Geschichte denn 2014 noch? Nicht aus Nostalgie, nehme ich an?
Aus verschiedenen Gründen. Ich habe den Roman von Julia Franck vor zehn Jahren gelesen, als er gerade publiziert wurde. Damals mehrten sich Bücher von Autoren mit einem ost-deutschen Hintergrund, die einen anderen Blick auf jene Zeit warfen. Julia Francks Roman entwickelte einen Sog, weil er eine besondere Welt entwarf, die mir fremd war. Die Ausreise meiner Familie aus der DDR verlief ja komplett anders. Ich kannte solche Lager nicht, aber ich kannte diese Emotion: sich in ein neues Leben sehnen und nicht zu wissen, was einen erwartet. Und dann anzukommen und lernen zu müssen, dass ein Neuanfang wesentlich schwieriger ist als erwartet. Ich weiß, dass das damals das Schicksal von vielen Menschen war – und bis heute ist. Denn das ist eine universelle Geschichte, dafür braucht es die DDR gar nicht. Anders als meine vorherigen Filme wurde „Westen“ mittlerweile in ganz viele Länder verkauft. Das freut mich natürlich.

Ein gutes Stichwort. Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, so wird uns gerne erzählt, freuten sich die Menschen wie Bolle über das Ende der deutschen Teilung. Man feierte auf den Straßen Berlins, dass die Brüder und Schwestern aus dem Osten endlich zum Bananenkaufen mit ihren Trabbis über den Kudamm fahren durften. Ihr Film spielt 1978, das Begrüßungsgeld kommt auch vor, aber ansonsten hält sich in Ihrem Film die Gastfreundschaft des Westens sehr in Grenzen.
Die Nacht des Mauerfalls 1989 war sicherlich einzigartig und auch ehrlich. Dennoch bin ich der Meinung, dass sich beide Seiten anders miteinander hätten beschäftigen müssen. Man hat erwartet, dass sich Ostler schnell anpassen. Das ist bis heute so. Wenn ein „Spiegel“-Titel „60 Jahre Deutschland“ erscheint, dann repräsentiert die Titelblatt-Collage fast ausschließlich Ereignisse der westdeutschen Geschichte. Die DDR wird als das kleinere, das weniger wichtige Deutschland gesehen. Das wird im Osten wahrgenommen – und führt mitunter zu einer nicht angemessenen Selbstwahrnehmung als Opfer. Insgesamt scheint mir zu wenig Neugier im Spiel zu sein. Warum erzählen wir uns nicht gegenseitig unsere Geschichten?

So wie es „Westen“ tut?
Ja. Als meine Familie damals, im Herbst 1989 in den Westen kam, wurden wir freundlich empfangen, aber man war auch mit uns überfordert. Ich war voller Eindrücke der Ereignisse, aber meine Mitschüler wussten nicht damit umzugehen, dass da plötzlich ein politisiertes Kind in der Klasse saß. Die anfängliche Neugier schlug schnell in Anpassungsdruck um.

Es gibt in Ihrem Film eine schöne Szene, wenn sich das Kind Alexej erstmals einer Kindergruppe vorstellen soll und beim Lehrer auf Unverständnis stößt, obwohl man dieselbe Sprache spricht. Weil der Lehrer nicht weiß, wie ein Pionierhalstuch ausschaut.
Diese Szene kommt eins zu eins aus meinem Leben.

In einer Parallelhandlung greift die staatliche Macht im Osten wie im Westen auf den nackten Körper der Protagonistin zu. Im Westen mit der Pointe, dass sie von der untersuchenden Ärztin auf ihre „Lagertauglichkeit“ hin geprüft wird. Ist das nicht etwas zu dick aufgetragen?
Das ist in der Realität noch viel extremer gewesen. Die Ausgebürgerten wurden misstrauisch behandelt, weil man befürchtete, sie könnten Krankheiten übertragen. Das hatte schon etwas sehr Beängstigendes.

Sie schildern die Atmosphäre in diesem Notaufnahmelager derart beklemmend, dass mir nicht ganz klar wurde, warum Sie das Ganze noch mit dieser Geheimdienst-Geschichte aufgeladen haben.
Die Geheimdienstgeschichte ist bereits im Roman drin. Seit Snowden wissen wir, dass Geheimdienste eine ganz andere Bedeutung hatten und haben, als wir immer geglaubt haben. Es geht immer auch um Manipulation durch Information.
Nelly ist keine Opferfigur. Sie hat mit aller Kraft versucht, sich in der DDR nicht brechen zu lassen. Und sie kämpft auch im Westen weiter. Trotzdem sind ihr in der Vergangenheit Verletzungen zugefügt worden, die jetzt wieder aufbrechen, sich durch den Gang der Ereignisse verstärken und phasenweise zu dieser Paranoia führen. Ihr Misstrauen wächst.

Sie trifft im Osten wie im Westen auf eine analoge männliche Macht-Arroganz.
Ich habe das metaphorischer gesehen. Sie droht zwischen den Großmächten zerrieben zu werden. Von Zuschauern, die sich selbst als links verstehen, ist auch schon kritisiert worden, dass ich den Wechsel von der DDR in die BRD so zeige, als handle es sich um einen Wechsel von Bayern nach Baden-Württemberg.

Vielleicht ist Deutschland insgesamt kein schöner Ort zum Leben?
Das haben jetzt Sie gesagt.

Wenn im Notaufnahmelager gefragt wird, ob man öfter an eine Rückkehr in die DDR denke, ist das doch ein Hinweis darauf, wie toll die BRD ist, oder?
Das lasse ich mal so stehen.

Es geht in allen Ihren Filmen immer wieder um die Frage der Identitätsfindung, manchmal verbunden mit der Frage nach Heimat wie in „Novemberkind“ oder jetzt „Westen“, manchmal etwas allgemeiner wie in „Die Unsichtbare“.
Diese Fragen haben mich immer beschäftigt und sie werden mich auch weiterhin beschäftigen.

„Westen“ taugt nicht zur sentimentalen Geschichtsverklärung, wie sie in den letzten Jahren Mode geworden ist. Er spuckt der hegemonialen BRD-DDR-Erzählung geradezu in die Suppe. Ist das ihre Absicht?
Ja. Es gibt nichts Langweiligeres als Filme, die gut eingespielte gesellschaftliche Übereinkünfte bestätigen. Die deutsch-deutsche Teilung hat komplexe Konfliktlagen erzeugt, die durch die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung abgelaufen ist, nicht gelöst wurden, sondern vielleicht erst virulent wurden. Darüber kann man ja mal nachdenken.

Ihr Film spielt 1975 und 1978. Zwar sind die Räume gerne eng gehalten, aber manchmal wird doch der Blick geöffnet und man sieht einen Straßenzug oder fährt durch ein nächtliches West-Berlin. Da spielt das Set-Design vom Oldtimer über die Mode und Frisuren bis zum Achselhaar der Protagonistin eine Rolle. Welchen Ehrgeiz haben Sie diesbezüglich entwickelt?
Auf der großen Kino-Leinwand kann man sich nicht verstecken! Das ist beim Fernsehspiel etwas einfacher. Wenn man sich entscheidet, etwas Historisches zu machen, dann muss man auch genau sein. Da wächst dann mein Ehrgeiz. Wobei ich nicht versucht habe, mich im Detail auf ein ganz bestimmtes Jahr festzulegen, weil das dem Erzählfluss schaden kann. Also einerseits keine Fehler im Detail, andererseits eine gewisse Zeitlosigkeit im Ganzen durch eine Beiläufigkeit. Ich mag es nicht, wenn das Historische als Historisches so angeberhaft ausgestellt wird.

Foto: © Senator