Ein Gespräch mit Jeanine Meerapfel anlässlich ihres Films „Der deutsche Freund“.
Wolfgang Nierlin: Warum erzählen Sie Ihren Film „Der deutsche Freund“ im Modus der Erinnerung, also in Form einer Rückblende, die Anfang und Ende zusammenschließt?
Jeanine Meerapfel: Das ist eine klassische, epische Form, die dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, diese Geschichte anzunehmen und trotzdem in Frage zu stellen, also ihre Fiktionalität zu erkennen. Damit verbindet sich nicht dieser apodiktische und hyperrealistische Anspruch, dass die Geschichte genau so ist, sondern dass sie so sein könnte. Diese Haltung interessiert mich in meinem Film. Das ist ein Angebot.
Die von Ihnen erzählte Geschichte umfasst eine Zeitspanne von fast dreißig Jahren und verbindet Privates mit Politischem, die Liebe der beiden Protagonisten mit den zeitgeschichtlichen Umbrüchen. Hätten Sie gerne, die Mittel vorausgesetzt, einen längeren, epischeren Film drehen wollen?
Was hätte ich da erzählen sollen? Im Prinzip spielt sich die Geschichte der beiden Protagonisten vor dem Hintergrund der großen Geschichte ab. Aber nicht diese interessiert mich, sondern die Geschichte dieser Menschen. Da brauche ich vieles bloß anzudeuten. Die meisten Zuschauer, die diesen Film sehen werden, wissen über die Studentenproteste von 1968, über Chile oder auch die Militärdiktatur in Argentinien Bescheid. Dafür gibt es genügend Informationen. Ich wollte aber nicht einen Film darüber machen, sondern einen über zwei Menschen, die die Geschichte Ihrer Eltern, also eine jüdische und im Kontrast dazu eine nationalsozialistische, immer noch in sich, quasi auf ihren Schultern tragen. Und ich wollte zeigen, wie sie sowohl mit dieser Geschichte umgehen als auch mit derjenigen, die sie selber erleben müssen.
Repräsentieren die beiden Figuren auch exemplarisch das deutsch-jüdische Verhältnis und geben insofern die beiden prototypischen Namen Friedrich und Sulamit einen Hinweis darauf?
Ob die beiden Figuren exemplarisch sind, weiß ich nicht. Jedenfalls sind sie sehr besonders, und sie sind Repräsentanten dieser Generation. Typen mit einem solchen familiären Hintergrund wie bei Friederich habe ich in Deutschland viele getroffen. Diese hatten immer ihren Pass versteckt, weil sie sich schämten, Deutsche zu sein; sie haben lange mit ihren Eltern und mit sich selbst gehadert; und sie hatten deshalb große Schwierigkeiten, sich selbst zu lieben und anzunehmen. Das ist mir sehr aufgefallen, als ich nach Deutschland kam.
Damit verbindet sich auch eine starke These in Ihrem Film, nämlich dass die Aversion gegenüber dem eigenen Elternhaus und der eigenen Geschichte, verstärkt durch diesbezügliche Schuldgefühle, zur politischen Radikalisierung dieser Generation geführt hat.
Das ist genau der Punkt. Und das ist etwas, was ich in Deutschland wirklich gesehen habe und was mich zugleich sehr erschrocken hat. Ich habe beobachtet, dass diese Menschen meiner Generation es nicht schaffen werden, sich selbst und andere zu mögen, wenn sie sich weiterhin so zerfleischen und Hass empfinden. Sie mussten erst einmal diesen Hass überwinden, um in der Lage zu sein, zu leben.
War dieser Selbsthass auch ein maßgeblicher Grund für den Terrorismus?
Das wäre mir zu einfach. Aber es gab etwas Selbstmörderisches in diesen ganzen Aktionen. Denken Sie an die Leute, die in die RAF gegangen sind; denken Sie an Holger Meins, den ich gekannt habe und der sich zu Tode gehungert hat. Jenseits der ideologischen Haltung gab es da eine unglaubliche selbstzerstörerische Kraft. Das kannte ich gar nicht. Das habe ich in dieser Stärke erst in Deutschland erlebt, gespürt und kennengelernt. Und gerade darüber wollte ich erzählen. Zumal es bislang außer Andres Veiels Film „Wer wenn nicht wir“, der sich mit Bernward Vesper und Gudrun Ensslin beschäftigt, sehr wenig darüber gibt. Ich finde, dass das hier eine wichtige Entwicklungsphase war, die großes und zugleich gefährliches Potential hatte.
Der Film erzählt in diesem Zusammenhang auch von der Spannung zwischen politischer Überzeugung und aktivem politischem Handeln und den Konflikten, die sich aus einem etwaigen Missverhältnis ergeben.
Das war auch merkwürdig. Ich lebte ja 1968/69 in Deutschland. Wenn man sich in bestimmten Gruppen nicht beteiligte, hat man sich sogar schuldig gefühlt; zum Beispiel wenn die anderen sehr viel aktiver und politischer waren und zum Arbeiten und Agitieren in die Fabriken gegangen sind. Und wer das nicht tat, war bürgerlich. Ich habe zu der Zeit sogar eine Psychoanalyse gemacht, was als extrem bürgerlich galt. Es gab da einen massiven Druck. Bezogen auf den Film bedeutet dies, dass sich Sulamit in der Beziehung zu Michael beschützt fühlt wie bei einem väterlichen Freund. Zwar liebt sie ihn auch, aber anders als Friedrich, den sie seit ihrer gemeinsamen Kindheit liebt und der sie seither nicht mehr loslässt. Zugleich hat sie das Gefühl, dass sie für ihn, der in einem argentinischen Gefängnis sitzt, etwas tun muss.
Könnte man sagen, dass Friedrichs Schuldgefühle ihrer Liebe im Weg stehen?
Natürlich. Ganz stark. Solange Friedrich (oder auch jeder andere Mensch) in solch selbstzerstörerischer Weise mit sich selbst hadert, ist keine Öffnung für die Liebe und den anderen möglich. Friedrich kann den anderen nicht sehen, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, sein Erbe zu verdauen und das auszuhalten, sodass er sich dem Anderen nicht öffnen kann. Die Erbschaft steht zwischen ihnen, das ist die Last.
Bezogen auf die bundesrepublikanische Gesellschaft, war es vermutlich auch das teilweise Fortwirken nationalsozialistischer Gewalt und Unterdrückung, die die politische Radikalisierung dieser Generation bewirkt hat.
Ich glaube, wenn diese jungen Menschen irgendwann in der Lage waren, das zu überwinden oder zumindest zu akzeptieren oder es aber in der Rebellion ausformuliert haben, um ihre Identität zu finden, dann sind das, vorausgesetzt sie haben diesen zerstörerischen Selbsthass überlebt, wunderbare Menschen geworden. Und ich behaupte, dass diese Menschen auch diese Republik geändert und menschlicher gemacht haben. Diejenigen, die überlebt haben oder nicht in den Terror geflüchtet sind, wurden zu Menschen mit einer unglaublich positiven Ausstrahlung. Das ist das andere, das neue Deutschland, das ich liebe und erst hier kennengelernt habe.
Beschreibt Ihr Film insofern auch eine Identitätssuche?
Bei der Identitätssuche lernen wir in jedem Moment unseres Lebens etwas, was man uns mitgegeben hat, also zum Beispiel Erziehung und Überlieferung, neu zu verstehen, indem wir es irgendwie neu kombinieren. Ich glaube, das Wichtige in der Beziehung der beiden Protagonisten besteht darin, dass sie lernen müssen, das Erbe, das sie mitbekommen haben, mitzunehmen, also im philosophischen bzw. Hegelschen Sinne aufzuheben und weiterzuleben. Wenn ihnen das gelingt, dann kann man von einer Identität sprechen, auch von der Identität eines Paares, egal wie kompliziert das ist. Mir scheint das ganz wichtig zu sein, ob man in der Lage ist, die Erbschaft aufzuheben. Bis heute sehe ich dieses Thema in Deutschland, Argentinien und anderswo. Man kann nichts vergessen und man kann nichts beiseite lassen; man kann nur damit weiterarbeiten und weiterleben. Darum diese Geschichte.