Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch ins Kino gehen …
von Janis El-Bira
Wettbewerb / Eröffnungsfilm: „Les Adieux à la Reine“ (Benoît Jacquot)
Die Übertragung der Eröffnungsgala aus dem Berlinale Palast in den Friedrichstadtpalast vor dem Eröffnungsfilm ist wohl so etwas wie der Kompromiss, den man eingehen muss, wenn man zwar nicht „wichtig“ genug ist, um zur eigentlichen Veranstaltung eingeladen zu werden, aber dennoch ein bisschen „offiziell“ in die Filmfestspiele starten möchte. So schaut man geschlagene sechzig Minuten zu, wie Dieter Kosslick und Anke Engelke hemdsärmelig durch ein Programm stolpern, das alles und jeden feiert, aber irgendwie nicht die Filme, um die es gehen soll. Man hört ungläubig, wie Bernd Neumann Sätze sagt, die so anfangen: „Kunst und Kultur und dazu zähle ich auch den Film …“ und Klaus Wowereit sich offen am allermeisten darüber freut, dass er und niemand sonst es ist, der wieder als regierender Bürgermeister auf der Bühne stehen darf. Trotzdem ist das alles auch ein bisschen lustig: Einmal mehr nimmt man zur Kenntnis, dass Menschen in HD und Gesichter groß wie Tennisplätze in Wahrheit doch irgendwie unvorteilhaft aussehen – vor allem, wenn sie von einer erbarmungslos durch den Raum springenden Kamera ahnungslos just im Ausdruck tiefster, fernschweifender Langeweile eingefangen werden. Dann kann man förmlich sehen, wie alles, was dort geschieht, durch Diane Krugers stahlblaue Augen direkt hindurchgeht und irgendwo – man weiß es nicht – zu sein aufhört; verdenken kann man es ihr nicht.
Erfreulicher ist dagegen, dass Benoît Jacquots Eröffnungsfilm „Les Adieux à la Reine“ kein Ausfall ist, obwohl Schlimmes zu befürchten war: Die letzten Tage auf Schloss Versailles am Vorabend der französischen Revolution werden erzählt aus der Sicht einer jungen Dienerin (Léa Seydoux), die als Vorleserin Marie-Antoinettes (Diane Kruger) sozusagen aus unmittelbarer Nähe den Zerfall des „ancien régime“ miterlebt. Am Anfang ist das auch genau jener „upstairs / downstairs“-Film, den man sich darunter vorstellt: Die Herrschaft ergeht sich in dekadentem Prunk, dafür sind „unten“ die Partys lustiger, die Frauen frivoler, die Pfaffen geil wie eh und je und ein alter Bibliothekar zwischen den Welten hat einen Buckel und spricht gerne dem Wein zu – alles wie gehabt, alles wenig aufregend. Jacquots Mittel sind konservativ-gradlinig und bleiben das auch. Dennoch macht es im Verlauf des Films immer mehr Spaß, dem ständigen Öffnen und Schließen der Türen und Gemächer zu folgen und zuzuschauen, wie die verknöcherten Hofschranzen nachts verunsichert aus ihren Kammern gekrochen gekommen, als die ersten Berichte von den Ereignissen in der Bastille im Schloss die Runde machen.
Mit fortschreitender Dauer bekommt die Erzählung von der ihrer Königin bedingungslos ergebenen Vorleserin eine zynische, fast grausame Note, wenn sie aufzeigt, dass der Gang aus der Unmündigkeit zunächst vor allem nicht Gewinn, sondern schwerwiegende Verluste bedeutet: Mit einem Marivaux’schen Kleider- und Identitätswechsel, der letztlich die Flucht ermöglichen soll, werden die erstarrten Hierarchien zwar im Spiel durchlässig, doch bedrückt dieser Tausch durch seine eisige Forciertheit und einen Moment völliger entblößter Nacktheit zwischen Aus- und Ankleiden. Das Bedecken und wieder Ent-Decken der Scham im Angesicht der Königin stellt Aufbruch und fatalistischen Gehorsam, Gewinn und Verlust im Anbruch der Aufklärung auf so engem Raum und so zart nebeneinander, dass das Festival einen ersten berührenden Moment geschenkt bekommt.
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Bewegungsskulpturen
von Lukas Foerster
Wettbewerb (außer Konkurrenz): „Flying Swords of Dragon Gate“ (Tsui Hark)
Gleich am Anfang ein spektakulärer tracking shot, der Kamerablick fliegt von oben, aus dem Himmel, in einen Hafen hinein, hinein in die Takelagen einer ganzen Reihe großer, weit ausladender Schiffe, rechts und links zischen da die Masten an einem vorbei, weit unten, in plastischer Schärfe, formiert sich langsam eine Welt. Ohne viel Vorlauf geht es dann hinein in die erste Kampfszene, es gibt, lernt man, die Ost-Verwaltung und die West-Verwaltung und außerdem Rebellen, die mit beiden nichts am Hut haben. Jedenfalls fliegen einem bald Schwerter und Balken um die Ohren, dass es eine Art hat. Nur Männer im ersten Kampf, aber es tauchen dann schnell die ersten Frauen auf, eine intrigante Konkubine und ihre flüchtige, schwangere Konkurrentin zunächst, es werden bald immer mehr, eine ist als Mann verkleidet und wagt besonders dreiste “wire fu”-Sprünge, eine andere, eine mongolische Rebellin, hat ein aufregendes Gesichtstattoo.
Gegen „Flying Swords of Dragon Gate“ sehen all die großen 3D-Produktionen, auf die Hollywood derzeit mit aller Macht setzt, all die „Avatars“ und „Hugos“, aus wie altmodische, museale Dioramen (von den “nachbearbeiteten” Flachheiten, von all den „Thors“ und „Ghost Rider: Spirit of Vengeances“, die nicht das Geringste anzufangen wissen mit der neuen Technik, gar nicht erst zu sprechen). Einzig einige fettarme B-Filme, allen voran Paul W.S. Andersons technisch imposanter „Resident Evil: Afterlife“, könnten als Vorstudien durchgehen, aber auch die verblassen schnell neben dem Meisterwerk aus Hongkong: Glasklar gebaut sind Tsui Harks Bewegungsskulpturen, sein Film beweist, dass sich die 3D-Technik auch mit schneller, hyperkinetischer Montage verträgt, wenn man sich auf die neue Sorte Bild wirklich einlässt und nicht bloß versucht, das ewiggleiche Schuss-Gegenschuss-Dauerfeuer samt großzügigem Unschärfebereich reliefartig aufzubrezeln.
Man könnte außerdem fast meinen, der Film sei auch in narrativer Hinsicht dreidimensional organisiert. Tatsächlich entfaltet sich „Flying Swords of Dragon Gate“ in erster Linie skulptural im Raum – und erst danach dramaturgisch in der Zeit: Im Zentrum steht das Dragon Gate Inn, von allen Seiten belagert, darunter befinden sich ein Labyrinth, eine verschüttete Mongolenstadt und ein Goldschatz, darüber, am Himmel, auf dessen wilde Farben die Kamera immer wieder schwenkt, braut sich ein farbenfroher Sandsturm zusammen, der es, wenn er denn schließlich loslegt, mit jedem Spezialeffektfeuerwerk Hollywoods locker aufnehmen kann.
Doch genug der Technik, so großartig sie auch ausschaut, ist sie doch nicht das, was den Film wirklich heraushebt aus dem Bewegungskino der Gegenwart. Vor allem gibt es da die Lust an der Intrige, die expandierenden, alles verschlingenden Lügengeschichten (Geschichten, die immer schon lügen, die gar nicht anders können). Um die Frauen entspinnen sich Melodramen, bei denen man nie so ganz sicher sein kann, ob sie nicht bloße Fabrikationen zwecks Vorteilsnahme sind, die Männer verkleiden sich gerne, imitieren einander, erfinden Passwörter, auf die sie irgendwann selbst hereinfallen werden, interpretieren Inschriften, die ein wenig tiefer in Geheimnisse hineinführen, auf deren Grund man doch nie gelangt und vermutlich sehr grundsätzlich nicht gelangen kann. Einfach nur er oder sie selbst, mit sich selbst identisch, ist niemand, einfach nur heroisch gleich gar niemand, die Gesamtwucht des Abenteuers ist größer als jedes Individuum und zersplittert die Identitäten. Am Ende brechen die Überlebenden in Lachen aus, man könnte denken, sie machten sich da über die heißgelaufenen Drehbuchautoren lustig, aber nein, im Gegenteil: Ein herablassendes, sich überlegen gebendes Lachen ist das gerade nicht. Eher ist es das Lachen derer, die erkannt haben, dass sie nicht immer Herr über das eigene Schicksal sein können; ein bescheidenes Lachen – aber kein ergebenes, resigniertes: wenn der nächste Goldschatz, die nächste Romanze lockt, sind mit Sicherheit wieder alle mit von der Partie.
Die Wurzeln des Films reichen weit zurück, bis zu King Hus „Dragon Gate Inn“ aus dem Jahr 1967, einem der Gründungstexte des modernen wuxia-Genres. 1992 hatte Tsui Hark sich schon einmal – als Produzent, Regie führte Raymond Lee – an einer Aktualisierung des Klassikers versucht („New Dragon Gate Inn“). Der neue Film ist technisch betrachtet kein weiteres Remake, sondern ein Sequel, angesiedelt einige Jahre nach den Ereignissen in Raymond Lees Film. Immer wieder erinnern sich die Figuren, insbesondere Jet Lis Chow Wai On, der fast durchweg im melancholischen Modus verbleibt, an die Vergangenheit, vielleicht auch an verschiedene Vergangenheiten, es gibt so viele Handlungsstränge, dass man oft das Gefühl hat, im Film hätten sich verschiedene Paralleluniversen eher zufällig übereinander gelegt. Von hier, das merkt man doch recht schnell – und das ordentliche, aber leider nicht allzu glorreiche Einspielergebnis in Hongkong, wo man sich letztes Jahr lieber „Sex and Zen 3D“ angesehen hat, bestätigt das – wird eher kein Franchise ausgehen.
Tsui Hark ist als auteur schwer dingfest zu machen. Am ehesten erinnert er an die Autorenfilmer des klassischen Hollywoodkinos: wie diese arbeitet er durchweg in den tradierten Genres, mit den bewährten Motiven des populären Kinos und ringt ihnen immer wieder aufs neue überraschende, idiosynkratische Facetten ab. Wobei seine Filme inzwischen auch außerhalb ihrer Inszenierung ein widerständiges Moment besitzen: Tsuis längst nicht mehr ganz zeitgemäße Bemühungen um den federleichten Formenreichtum des inzwischen ebenfalls klassisch gewordenen Hongkongkinos der Siebziger und Achtziger Jahre setzen ihn in unbedingte Opposition zur staatstragenden, pompösen, mainlandchinesischen Geschichtsfilmerei eines Zhang Yimou und dessen Spießgesellen. Die Insignien des Imperiums sind für Tsui nichts als Verfügungsmasse, die alte Prunkstadt wird nur freigelegt, um ausgeraubt und dann gleich wieder im Sand begraben zu werden. Und der Kaiser ist eine Fälschung.
Benotung des Films: 9/10
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Utopische Pazifisten
von Michael Schleeh
Retrospektive: „Okraina“ / Vorstadt (Boris Barnet, UdSSR 1933)
„Okraina“ ist eine kauzig-bittere Komödie (in der ersten Szene schwimmen tatsächlich ein paar meckernde Enten im Dorfteich) über das ärmliche Leben einer Schustersfamilie und deren Umfeld in einem russischen Provinznest, die eine tiefgehende Erschütterung erfährt, als ein deutscher Kriegsgefangener nach den erbitterten Kämpfen des Ersten Weltkriegs an die Tür klopft und nach Arbeit sucht. Als sich dann auch noch die Schusterstochter mit dem Deutschen einlässt, schlagen ihn die Russen halbtot. Doch der Schuster bändigt schließlich die Meute: der Fremde sei zuallererst einmal ein Schuster und dann ein Deutscher. Vor dem Krieg nämlich, da lebten Deutsche einträchtig mit den Russen zusammen in der Gemeinde. Denn eines hatten schließlich alle gemein: man arbeitete wie besessen und war trotzdem arm. Abgerissene Charakterfressen und zerlumpte Tagediebe tummeln sich in den wunderbaren Milieuschilderungen dieses Films, der sich oftmals bis zur Groteske steigert, nur um kurz darauf wieder zu seiner Menschlichkeit zurück zu finden, durchsetzt von einem wunderbar angedeuteten revolutionären Pathos. Match-Cuts finden sich etliche und Montagen, die sich an akustischen Übergängen orientieren. Spiele mit einer durch Verfremdung der Geräusche kommentierenden Tonspur ebenso; es ist eine Freiheit des Formalen spürbar, die in ihrer Ungezwungenheit dann bis zum Slapstick-Humor reicht und die Nähe zum Stummfilm sucht. Etwa wenn der Galan plötzlich von der Bank aufsteht und die Angebetete auf der anderen Seite von derselben kippt. So gelingt es dem Film, eine ungewöhnliche Stimmung zu erzeugen, die zwischen bitterem Ernst und lebensfroher Leichtigkeit changiert und die dabei einen Optimismus versprüht, den man sich besser von den Umständen nicht nehmen lässt. „Okraina“ läuft in der Retrospektive „Die rote Traumfabrik“, die Filmkopie stammt vom Österreichischen Filmmuseum in Wien.
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Geisterkinder, Muttertiere und Tyrannenmorde
von Janis El-Bira
Wettbewerb: „Cesare deve morire“ (Paolo & Vittorio Taviani)
Filme über „ungewöhnliche“ Menschen, die Ungewöhnliches leisten, gibt es so manche. Filme, in denen dieses Ungewöhnliche die Kunst ist, die von vermeintlich „kunstfremden“ Menschen geschaffen wird, auch. Der neue Film der Taviani-Brüder ist zum Glück kein solcher und umgeht, seiner Thematik (Häftlinge eines Hochsicherheitstraktes, die Shakespeares „Julius Caesar“ spielen) zum Trotz, auf wohltuende Weise die meisten Fallen, in die andere Filme ähnlicher Art hineinlaufen: Hier gibt es keine paternalistische Erziehung des deviant gewordenen Menschen durch die Kunst, niemand wird hier zu einer besseren Person, nur weil er mit klassischem Theater in Kontakt gekommen ist. Vielmehr zeigen die Tavianis, dass die „Kunst“, das Theater, nicht etwas ist, das von außen und unverändlich an die fleißige Schauspielertruppe im Knast herantritt, sondern sich selbst verändert im Moment ihrer lebendingen Aufnahme und Anverwandlung. Hierfür bedienen sich die Filmemacher eines formalen Experiments: Entgegen aller Konvention zeigen sie die Phase des Probens auf den Fluren und Höfen des Gefängnisses nicht etwa als quasi-beiläufig abgefilmte Beobachtung, sondern in der Tat artifizieller und „inszenierter“ als die eigentliche Aufführung, die lediglich zu Beginn und Ende des Films in kurzen Auszügen zu sehen ist. Das schafft zunächst (angenehme) Irritationen, indem das Dokumentarische weit in den Hintergrund tritt: Hier spielen bestens vorbereitete Häftlinge offenbar Häftlinge, die wiederum Theater spielen. So wird alles zur Inszenierung, jeder spielt eine „Rolle“. Am Ende steht der erschreckende und schöne Satz: „Seit ich die Kunst kennen gelernt habe, ist diese Zelle zu einem Gefängnis geworden.“ Auch darin verlässt „Cesare deve morire“ bekanntes Terrain: Die Kunst macht den Menschen nicht besser, macht das Leben nicht leichter. Allenfalls weitet sie den Horizont – und macht dessen Grenzen umso schmerzhafter erfahrbar.
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Wettbewerb: „Dictado“ (Antonio Chavarrias)
Aus dem Reich der Toten, wie in Hitchcocks „Vertigo“, der hier mehr als einmal zitiert wird, ist die kleine Julia zu dem jungen Paar Daniel und Laura gekommen, das selbst keine Kinder bekommen kann. Ihr Vater, Mario, hat sich vor ihren Augen in der Badewanne die Pulsadern geöffnet. Laura ist freilich die (Ersatz-)Mutterliebe selbst, nicht wissend, dass Daniel und Mario eine gemeinsame Geschichte verbindet, in deren Mittelpunkt der viele Jahre zurückliegende, damals durch die beiden Jungen mitverschuldete Tod von Marios Schwester liegt. Alsbald entdeckt Daniel, dass das unscheinbare Mädchen in mancherlei Hinsicht an die tote Schwester erinnert. Genau genommen ist das hier also „Vertigo“ mit vertauschten Vorzeichen: Nicht um die fetischhafte Wiedergewinnung einer toten und verlorenen Liebe geht es, sondern um das Loswerden eines aufdringlichen, an die verdrängte Schuld appellierenden Geistes.
Als Spuk macht Julia dem feschen Daniel zu schaffen – es scheint, als sei sie die Reinkarnation der einst in einem Erdloch zurückgelassenen Schwester Marios. „Dictado“ (so der Titel eines im Film die Geisterverschwandschaft entlarvenden Kinderliedes) weiß allerdings leider nichts von der schrecklichen Tatsache, dass – im Sinne der Grimm’schen Märchen, deren Topoi sich der Film mehrfach bedient – dem Gespenstischen nur im radikalen Entzug der Liebe der Garaus gemacht werden kann. Stattdessen lässt er Daniel mit doch arg konventionellen Mitteln (Schaufelhieb, etc.) versuchen, sich Julias zu entledigen. Ein Unterfangen, das am bedingungslosen Muttertiereinsatz seiner Freundin Laura scheitert. So sterbenslangweilig, wie das klingt, ist es auch.
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Nothing to be frightened of …
von Janis El-Bira
Wettbewerb: „Aujourd’hui“ (Alain Gomis)
Am Anfang das Meer, leinwandfüllend. Dazu die Ankündigung, eine Geschichte erzählen zu wollen, bei der allein der Zuschauer/-hörer darüber zu befinden habe, ob der Erzähler wirklich dabei war. Das Meer ist einer der ältesten Orte menschlicher Sehnsuchtsprojektionen und Sinnsuchen – Ort des Transits und endloser Horizont zugleich. Über das Meer ist auch Satché (Saul Williams) gegangen und gekommen: Der junge Mann hatte einst seine senegalesische Heimat verlassen, um in den USA zu studieren. Nun kehrt er zurück, um zu sterben. Nicht irgendwann, sondern heute, aujourd’hui. Wir wissen nicht, woran er stirbt, er scheint nicht krank zu sein. Doch er weiß sicher, dass es an just diesem Tag geschehen wird. Gemäß eines Rituals seines Dorfes soll er an diesem letzten Tag seines Lebens noch einmal die Menschen besuchen, die seinen Lebensweg geprägt haben. So begleiten wir ihn auf seinem Weg, sehen, wie die Dorfbewohner ihn zunächst feiern und Feste für ihn ausrichten, ihn später jedoch mit skeptischen Fragen nach seiner Rückkehr und seinem baldigen Verschwinden konfrontieren. Wir sehen ihn mit Freunden, mit seinem Onkel, der ihm vorführt, wie er ihn nach seinem Tod rituell waschen wird, wir sehen seine Geliebte, seine Frau, seine Kinder. Die Kamera ist fast immer in Bewegung, rafft und dehnt die Zeit, die Satché noch bleibt. Am Ende des Tages werden die Schatten länger, die Bilder zugleich schwerer, langsamer.
Gegen die neutrale Aufzeichnung der Rituale, die Satché mehr oder minder freiwillig über sich ergehen ließ, scheint sich der Film nun mit seinen Figuren zu verschränken – mit Satchés Frau etwa, die wütend ist über sein Sterben, sein Sie-Verlassen, mit seinen Kindern, die ein letztes Mal mit ihrem Vater ausgelassen herumalbern. Das Chronologische der Bilder wird aufgebrochen, die Kinder sind plötzlich erwachsen: (Film-)Zeit ist nicht identisch mit Minuten, Stunden, Tagen. Schließlich sind Kamera und Film eins mit Satchés Körper, reisen mit ihm in die Nacht, die hereinbricht im Blick des Sterbenden über die Schulter des geliebten Menschen und die zum Dunkel zwischen den Bildern wird. Wunderbar.
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(Sämtliches Bildmaterial: © Berlinale 2012)