Hausnummer Null

(DE 2024; Regie: Lilith Kugler)

Chris wird clean

Regisseurin Lilith Kugler muss am S-Bahnhof Berlin-Friedenau ausgestiegen sein, als sie in die Hauptstadt kam. Denn der erste, der sie begrüßte, war Chris, der dort sein Lager hat. Ein junger Drogensüchtiger, der manchmal versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen und vom Betteln wie vom Drogendealer lebt. Nachbarn stellen ihm manchmal Essen und Wäsche hin. „Ich habe schon 15 Schlafsäcke“, erzählt er.

Kugler, die fürs Filmstudium nach Berlin gekommen ist, findet auf diese Weise gleich den Hauptdarsteller für ihren ersten Film, die Dokumentation „Hausnummer Null“. Sie beobachtet Chris beim täglichen Überleben, lässt Alex zu Wort kommen, den einzigen Kumpel, den Chris hat. Mehrmals gibt es Anläufe, ihm einen festen Wohnsitz und einen Drogentherapieplatz zu besorgen.

Substitution, Angst vor dem Scheitern, vor dem Urteil anderer, Betäubung: Chris fühlt sich bereits zu abhängig, um vom Heroin loszukommen. Doch er hat immer wieder cleane Phasen, in denen er wirkt wie viele andere seiner Altersklasse Anfang 20. Er könnte ein Auszubildender oder ein Student sein. „Ich will bleibenden Eindruck hinterlassen bei den Menschen. Vielleicht ist das meine große Angst: dass ich vergessen werde“, sagt er. Kurz darauf dann der Rückfall, sein Gesicht dunkel und entglitten, das ist das Antlitz eines schwer gezeichneten Menschen. Dann heißt es wieder: Platte machen für den nächsten Schuss.

Für Verwunderung sorgt ein Aufenthalt bei seiner Mutter auf dem Land. Sie schildert in gut bürgerlichem Ambiente, dass sie an Chris’ Drogensucht nicht herankommt, berichtet von einer jahrelangen Krankengeschichte. Sie ist der Auffassung, er leide an Autismus sowie an ADHS und komme daher so schlecht mit sich und anderen zurecht. Die Ärzte hätten einiges ausprobiert, als Chris ein Kind war. Und sie? „Ich würde alles tun, nur nach Berlin, da gehe ich nicht. Das ist Terror dort.“

Kugler erlaubt einen Blick in die Lebenswelt jener vielen Menschen, die täglich in abgerissenem Zustand in den U- und S-Bahnen unterwegs sind. Die Welt der dreckigen Finger, der Flaschensammler, der Unter-den-Brücken-Schläfer. Eine beeindruckende filmische Arbeit, die dem Publikum zu denken gibt.

Diese Kritik erschien zuerst am 12.09.2024 auf: links-bewegt.de

Hausnummer Null
Deutschland 2024 - 95 min.
Regie: Lilith Kugler - Drehbuch: Lilith Kugler - Produktion: Jonatan Geller-Hartung, Bettina Morlock, Rouven Rech, Teresa Renn - Bildgestaltung: Lilith Kugler, Stephan Vogt - Montage: David MacJones - Musik: Valeriia Khazan - Verleih: Drop-Out-Cinema - Besetzung: -
Kinostart (D): 12.09.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt32369687/
Foto: © Drop-Out-Cinema