Ein Hochhaus steht in Flammen, die sich mit ihrem weit sichtbaren Feuerschein in das Dunkel der nächtlichen Stadt schneiden. Deren Straßen sind erfüllt von den Alarm-Sirenen der Feuerwehr, die kurz darauf am brennenden Objekt eintrifft, um das Feuer zu löschen. Dieses Fanal am Anfang von Hirokazu Kore-edas neuem Film „Die Unschuld“ wirkt wie ein Zeichen drohenden Unheils oder als Ausdruck von Gefahr und schwelenden Konflikten. Tatsächlich beschäftigt sich der japanische Meisterregisseur auch diesmal mit leidgeprüften Menschen in beschädigten Familienbeziehungen. Immer sind es die Folgen emotionaler Verletzungen oder Entbehrungen, die das Verhalten der Menschen bestimmen. Wo alles miteinander zusammenhängt und das „Gefühl des Schmerzes“ das Handeln bestimmt, wechselt das Gesicht der Wahrheit fortwährend die Perspektive. Nach dem Vorbild von Akira Kurosawas „Rashomon“ erzählt Hirokazu Kore-eda seine verwickelte Geschichte deshalb in drei aufeinanderfolgenden Episoden aus dem subjektiven Blickwinkel seiner Protagonisten. So entsteht allmählich ein immer vollständigeres Bild.
Dieses erinnert uns zugleich daran, dass es jenseits unserer Wahrnehmungen stets einen verborgenen Schatten gibt. So bemerkt etwa die alleinerziehende Mutter Saori, deren Mann tödlich verunglückte, dass sich ihr etwa 12-jähriger Sohn Minato seit geraumer Zeit merkwürdig verhält. Offensichtlich plagen und belasten ihn schulische Konflikte, die zudem mit körperlichen Übergriffen einhergehen. Als der Verdacht durch eine Lüge auf einen jungen Lehrer fällt, wird dieser, um das Ansehen der Einrichtung zu schützen, von der Schulleitung zum Sündenbock erklärt. Hinter einer Mauer des Schweigens soll etwas vertuscht werden, was den angeblich Schuldigen seinerseits in seelische Nöte stürzt. Erst die Perspektive des Lehrers Hori erhellt, dass dieser entgegen der Annahme ein sehr umsichtiger, auf Ausgleich bedachter Pädagoge ist; und dass die Ursache der zunächst rätselhaft erscheinenden Vorkommnisse in einem Streit unter Schülern begründet liegt.
Das Scheidungskind Yori, das bei seinem autoritären, alkoholabhängigen Vater lebt, wird von den Jungs der Klasse wegen seiner sensiblen Art gemobbt, ausgegrenzt und als Außenseiter abgestempelt. Nur Minato, der sich mit Yori anfreundet, hält zu ihm, darf das aber aus Gründen des Selbstschutzes nicht zeigen, was ihn in heftige Loyalitätskonflikte stürzt. Einfühlsam und Anteil nehmend, erzählt Kore-eda, wie in einem gesellschaftlichen Klima aus Misstrauen, Angst und falschen Verdächtigungen die innige Freundschaft der beiden Jungen unter Druck gerät. Einmal fragt Yori: „Warum wurde ich geboren?“ In einem ausrangierten, verwitterten Zugwaggon im Wald, der mit seinem saftigen Grün und einer hellen, freundlichen Farbigkeit als Kindheitsparadies inszeniert wird, finden sie ein Refugium für ihre freien Spiele in einem offenen Raum der Möglichkeiten und für ihren Traum von einer Wieder- oder Neugeburt in einer Welt, in der das Glück ausnahmsweise einmal gerecht verteilt wäre. Doch dafür braucht es erst mal einen klärenden, reinigenden Regen, der die lodernden Flammen der Zwietracht löschen könnte und der schließlich mit der Nachricht eines aufziehenden Taifuns angekündigt wird.