„Wir werden den Weißen Autogramme geben“: Seydou und Moussa, die beiden jugendlichen Cousins und Hauptfiguren in Matteo Garrones Spielfilm „Ich Capitano“, sind nicht von Krieg oder Hunger bedroht. Sie treibt Abenteuerlust und Erfolgsstreben an. In der Stadt im Senegal, in der sie leben, herrscht Armut – und die beiden schnüren ihre Sachen, um Karriere zu machen. In der Nachbarschaft sind sie als begabte Musiker bekannt, jetzt wollen sie Ruhm und Ansehen in Europa. „Damit wir dir und unseren Schwestern Geld schicken können“, erklärt der 16-jährige Seydou seiner Mutter. Die hält gar nichts von dem Plan.
Auf dem Bau haben sich die beiden Schüler das Geld für den Weg erarbeitet. Nun stehen sie vor dem Road-Trip ihres Lebens – und werden grausame Dinge erleben. Wie viele andere in einem schrottreifen Bus unterwegs, begeben sie sich auf die Reise über die Länder Mali und Niger bis nach Libyen. Dort wollen sie in See stechen, rüber nach Italien. Bald geht es los mit den Schwierigkeiten. Das Geld geht drauf für falsche Pässe, der erste Grenzer, der sie kontrolliert, verlangt eine Gebühr. „Wann habt ihr die Passfotos gemacht?“, fragt er. „Vor zwei Jahren“, antwortet Seydou. „Und da hattet ihr dieselben Sachen an wie heute? Alles klar.“ Es wird nicht besser. Der Weg durch ausgedehnte Wüstengebiete ist beschwerlich und tödlich. Erschrocken starren sie auf die Leichen am Wegesrand.
Ihre Reise wird in einem Gefängnis in Libyen enden. Geiselnehmer drohen mit Folter, wenn sie nicht die Telefonnummer ihrer Angehörigen rausrücken, die Lösegeld zahlen sollen. Der Mutter, die gegen die Reise war, mit so einer Peinlichkeit kommen? Nie! Weil Seydou nicht kooperiert, wird er an der Decke aufgehängt, Schreie hallen durch die Gänge, die Körper von zu Tode Gefolterten stapeln sich übereinander.
Über die Verhältnisse in diesen Stätten berichtete Amnesty International mit Nachdruck. Männer, Frauen und Kinder, die sich auf dem Weg nach Europa befinden, werden abgefangen und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt: systematische Folter, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit. Nach Zahlen von Flüchtlingsorganisationen sollen sich derzeit rund 700.000 Migrant*innen in Libyen befinden, ein Großteil von ihnen sind Menschen aus Subsahara-Afrika wie Seydou und Moussa. Etwa ein Viertel dürfte jünger als 18 Jahre sein.
Wie viele von ihnen befinden sich die Jugendlichen im Film in einer durchgehenden Grenzerfahrung. Zudem hat Moussa eine Schusswunde davongetragen, er müsste schnellstens in ein Krankenhaus. Aber anders als die meisten entkommen Seydou und Moussa den Erpressern durch eine glückliche Wendung: Die Schleuser machen Seydou zum Kapitän des Schiffes, mit dem die beiden Cousins und Dutzende weitere Menschen nach Italien übersetzen sollen. Ohne nautische Erfahrung – „Ich kann nicht mal schwimmen“ – ist der Junge für diese Gruppe verantwortlich. Und wie zuvor lotet Regisseur Garrone brisante Situationen und Konflikte – Krankheitsfälle, Wassermangel – punktgenau aus. Seydou muss in seine Rolle als Verantwortlicher finden.
„Ich Capitano“ arbeitet mehr als Abenteuerfilm denn als politisches Erklärstück. Seine Struktur ist die der modernen Odyssee, der Fahrt mit ungewissem Ausgang. Regisseur Garrone lässt die Schwierigkeiten, in denen sich Menschen auf der gefährlichsten Fluchtroute der Welt wiederfinden, mit leichter Hand einfließen.
Der Film geht auf einen Besuch des Regisseurs in einem Aufnahmezentrum für Minderjährige in Catania zurück, dort kam Garrone mit jungen Geflüchteten ins Gespräch. Das Drehbuch wurde letztlich von Menschen geschrieben, die ebendiesen Weg nach Italien genommen hatten. „Ich wollte eine Geschichte aus der Perspektive der Migrant*innen erzählen, die auf ihrer abenteuerlichen Reise um ihr Leben bangen müssen“, sagt Garrone.
Im Zentrum stehen seine beiden Darsteller und wie diese mit widrigen Verhältnissen zurechtkommen. Die Kameraarbeit und die beiden guten Schauspieler machen diesen mehrfach preisgekrönten Film aus. Seydou Sarr, der brillante senegalesische Hauptdarsteller, gewann den „Marcello-Mastroianni-Preis“, Garrone den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig für die Regiearbeit.
Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal