Millennium Mambo

(TW 2001; Regie: Hou Hsiao-Hsien)

Existenzielle Verlorenheit

Wie in Trance bewegt sich eine junge Frau in Zeitlupe und mit wehendem Haar durch den langen Gang einer Unterführung. Immer wieder wendet sie den Kopf zurück zur Kamera, die ihr folgt, und damit zum Zuschauer. Ihr sinnlicher Blick durchbricht die vierte Wand und vermittelt im Verbund mit einem hypnotischen Beat ein Gefühl von Ekstase und Befreiung. Dieses wird jedoch sofort in eine Spannung aus Abhängigkeit und Gefangenschaft überführt, als eine Off-Erzählerin aus der nicht allzu fernen Zukunft der Erzählzeit zehn Jahre zurückblickt auf das Jahr 2001 und damit auf die Jahrtausendwende. „Millennium Mambo“ lautet entsprechend der Titel des Films, der seine rauschhafte Heldin Vicky (Shu Qi) in eine toxische, destruktive Beziehung setzt zu ihrem ebenso eifersüchtigen wie besitzergreifenden Freund Hao-Hao (Tuan Chun-hao). Als „Fluch“ beschreibt die Erzählerin Vickys Abhängigkeit, die sie immer wieder zwinge, zu dem gestörten jungen Mann zurückzukehren, der seine Zeit mit Drogen, Videospielen und Technomusik füllt.

Hou Hsiao-Hsien imprägniert seinen hypnotischen Film von Anfang an mit einer Atmosphäre existentieller Verlorenheit. Seine hedonistischen Figuren leben nach dem Lustprinzip, lassen sich treiben und haben keine Perspektive für ihr Leben, das immer wieder feststeckt in Frust, Gleichgültigkeit und Langeweile. Eine gestörte Kommunikation, latente Unwilligkeit und immer wieder ausbrechende Aggressionen kennzeichnen das Verhältnis der trübsinnigen, kettenrauchenden Schönen und des eifersüchtigen Kontrollfreaks. Die räumliche Enge ihrer kleinen Wohnung in Taipeh, wohin Vicky bereits im Jugendalter aus Keelung aufgebrochen ist, spitzt die klaustrophobische, tendenziell konfrontative Gefühlslage noch zu. Dabei konzentriert sich Hou Hsiao-Hsien auf die Gesichter und Körper im Vordergrund und lässt die Hintergründe unscharf und diffus erscheinen. Seine szenische Regie dehnt dabei in langen Einstellungen, die durch behutsame Schwenks dynamisiert werden, die Zeit, sodass alle Bewegungen mit ihren Leidenschaften letztlich nur einen traurigen Stillstand markieren.

Dabei sind die Bilder der einzelnen Episoden der retrospektiven Off-Erzählung nachgelagert, ohne deren Vorgaben genau oder vollständig zu erfüllen. Im Kontrast zur Beziehungsgefangenschaft beschwört Hou Hsiao-Hsien die Entgrenzung im Rausch, im Tanz und in der Musik. „Millennium Mambo“ ist insofern ein Film der Nacht und der dunklen Farbigkeit, die sich in Rot- und Blautönen gegen das Licht stemmt, als gelte es, das Vergehen der Zeit aufzuhalten und die Vergänglichkeit für lange, neonfunkelnde Augenblicke zu suspendieren. Der taiwanesische Meisterregisseur übersetzt dieses Lebensgefühl in die visuell herausragend komponierte Spannung dialektischer Bilder zwischen Enge und Aufbruch. „Wir kommen aus unterschiedlichen Welten. Wie sollen wir uns da jemals verstehen?“, sagt Hao-Hao wiederholt zu Vicky. Es ist schließlich der sanfte Gangster Jack (Jack Kao), der sich um die abstürzende Vicky kümmert und mit seiner Zuwendung trotz aller Unwägbarkeiten hilft, ihr Leben vielleicht doch noch „in Ordnung zu bringen“.

Millennium Mambo
(Qian xi man bo)
Taiwan 2001 - 105 min.
Regie: Hou Hsiao-Hsien - Drehbuch: Chu T'en-wen - Produktion: Chu T'en-wen, Eric Heumann - Bildgestaltung: Mark Lee Ping Bin - Montage: Liao Ching-Song - Musik: Yoshihiro Hanno, Kai-yu Huang, Giong Lim - Verleih: Rapid Eye Movies - Besetzung: Shu Qi, Jack Kao, Tuan Chun-Hao
Kinostart (D): 21.09.2023

DVD-Starttermin (D): 18.04.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt0283283/
Foto: © Rapid Eye Movies