Sie nehmen Drogen und sorgen für unzüchtiges Verhalten: Prostituierte haben in der öffentlichen Wahrnehmung des Iran einen denkbar schlechten Leumund. Männer suchen sie auf, klar, aber wollen nichts mit ihnen zu tun haben. Bigotterie ist der Boden der Moral.
Als der „Spinnenmörder“ seine Mordserie unter Prostituierten beginnt, kann er sich zumindest des heimlichen Beifalls sicher sein. Er befreie nun einmal „die Straßen vom Dreck“, verrichte die Arbeit Gottes. Er mordet in seiner Wohnung, wenn seine Familie nicht da ist. Dabei tritt er plakativ dreist auf und ruft sogar bei Zeitungen an, um die Stelle durchzugeben, wo sich die Leiche befindet – die er vorher in aller Öffentlichkeit auf dem Motorrad durch die Stadt gefahren hat.
Die Polizei? Macht zunächst Dienst nach Vorschrift, bis eine Sondereinheit ermittelt. Nur die engagierte Journalistin Rahimi veröffentlicht kontinuierlich Artikel über ihre Recherchen zu dem Fall und kollidiert immer wieder mit einer der von Männern vorgegebenen Regeln. Nicht nur das: Der Täter wird alsbald sogar als Held gefeiert. Er sei ein Kämpfer des Dschihad gegen die Zügellosigkeit.
Die junge Journalistin nimmt das gesellschaftliche Klima wahr, aber es interessiert sie nicht. Konsequent geht sie ihrer Arbeit nach, auch noch, als der Polizeichef sie unter Druck setzt und belästigt. Sie recherchiert weiter, obwohl sie beleidigt, bekämpft und bedroht wird.
„Holy Spider“ setzt dem unerschrockenen Journalismus ein Denkmal. Ein Plädoyer, nicht lockerzulassen, egal, wie die Umstände sind. Der Plot hat einen realen Hintergrund. Regisseur Ali Abbasi nimmt in seinem Spielfilm Bezug auf eine reale Mordserie im Iran Anfang der 2000er-Jahre. Der Täter Saeed Hanaei ermordete in Maschhad innerhalb zweier Jahre 16 Frauen mit ihren eigenen Kopftüchern; wie eine Spinne ihre Beute einwebe, befand die Presse.
Abbasi konzipiert den einfachen Handwerker als einen Täter, der sich berechtigt fühlt, im Sinne einer gesellschaftlichen Ordnung zu handeln, wie er sie wahrnimmt. Ein Vollstrecker mit moralischem Auftrag. Die Frauen hätten die Sittenlosigkeit in seine Nachbarschaft gebracht, seine Familie sei bedroht worden, sagt er vor Gericht.
Abbasi hat einen intelligenten und packenden Thriller aus dem Stoff gemacht. „Meine Absicht war es nicht, einen Serienmörderfilm zu drehen“, sagt der Regisseur. Er habe vielmehr einen Film über eine „Serienmörder-Gesellschaft“ machen wollen. „Holy Spider“ thematisiere den tief verwurzelter Hass auf Frauen, der nicht unbedingt religiös oder politisch motiviert sei, sondern einen kulturellen Ursprung habe. Insofern wirkt der Film wie ein direkter Kommentar zu den derzeitigen Ereignissen im Iran, den Demonstrationen und Polizeiaktionen, Protesten und Hinrichtungen, die nach dem Tod der jungen Frau Jina Mahsa Amini auf einer Polizeistation im September des letzten Jahres begannen. Die Behörden hatten sie festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen haben soll. Nach der Festnahme fiel sie ins Koma und verstarb bald darauf in einer Klinik. Der Frauenhass zeige sich in der Geschichte des Saaed ungefiltert, sagt Abbasi über seinen Film, „in seiner reinsten Form“. Er wolle dies aus verschiedene Perspektiven zeigen, in einem Panorama der iranischen Gesellschaft.
Aber „Holy Spider“ handelt nicht nur spannungsreich davon, wie Rahimi den Mörder überführt, indem sie als Lockvogel agiert, er thematisiert auch auf sehr ungewöhnliche Art das Thema Todesstrafe. Saeed wird aufgrund eindeutiger Beweise schnell überführt; zudem prahlt er vor Gericht mit seinen Taten. Der Richter spricht – ganz entgegen dem ersten Eindruck – entschieden schnell das Todesurteil. Im Gefängnis aber sichert man ihm zu, der Prozess sei nur Komödie. Auf dem Weg zum Galgen werde man ihm die Flucht ermöglichen.
Erst als Saaed die Schlinge um den Hals spürt, ist ihm klar, dass dies sein Ende sein wird. Ist er Opfer seiner selbst? Er hat 16 Menschen auf dem Gewissen, welche Gefühle hat nun die Zuschauer*in? Findet sie die Todesstrafe gerecht? Hinterfragt sie ihre eigenen Einstellungen? Aus einem lange zurückliegenden Kriminalfall gelingt es Abassi, mit einem hervorragend spielenden Ensemble tiefergehende Fragen nach Recht und Gerechtigkeit aufzuwerfen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Amnesty Journal 01/23