Aus dem Off dringen Straßengeräusche, Verkehrslärm und aufgeregtes Stimmengewirr. Verhüllte Frauen, kleine Marktstände und Ruinen bestimmen das Straßenbild. Vor allem aber sind es die patrouillierenden und marodierenden Banden der Taliban, die im Sommer des Jahre 1998 die Szenerie in der afghanischen Hauptstadt Kabul beherrschen. Mit Gewalt und Schrecken drangsalieren und terrorisieren sie die Menschen. Kleinste Vergehen werden drakonisch bestraft, worunter besonders die Frauen leiden. Eine von ihnen wird wegen angeblicher Unzucht öffentlich gesteinigt, bis sie tot ist und sich das Blau ihrer Burka blutrot färbt. In dieser Atmosphäre aus Angst und Verzweiflung, Not und Unterdrückung ist der Roman „Die Schwalben von Kabul“ („Les Hirondelles de Kaboul“, 2002) des algerischen Schriftstellers mit dem Pseudonym Yasmina Khadra angesiedelt. Dieses Buch haben Zabou Breitman und Éléa Gobbé Mévellec unter dem gleichnamigen Titel für ihren Animationsfilm adaptiert, um von der Sehnsucht nach einer verbotenen Freiheit zu erzählen.
In luftig aquarellierten Bildern einer blassen Farbigkeit, deren Flächen in leichte Schatten auslaufen, sich dem ockerfarbenen Staub oder aber dem hellen Nichts annähern, entwickeln die beiden Filmemacherinnen eine parallele Erzählung. Mit einem leichten, starke Kontraste meidenden Pinselstrich schaffen sie Raum für subjektive Blicke auf Details und auf die Kargheit eines zerstörten Lebens, für markante Symbole und stimmungsvolle Stadtansichten. Die im Titel aufgerufenen Schwalben symbolisieren dabei die Ambivalenz zwischen realer Gefangenschaft und dem Traum, diese zu überwinden. Dieses Motiv spiegelt sich auch im vergitterten Gesichtsfeld der Burka (die in Afghanistan und im Film Tschadari genannt wird) und den in ein kaltes Nachtblau getauchten kahlen Gefängnisgängen, während die Ruinen der Universität und des Kinos als steinerne Zeugen einer zerstörten Kultur fungieren.
Mit beiden Orten sind die jungen Eheleute Mohsen und Zunaira verbunden, die sich mehr schlecht als recht in der inneren Emigration eingerichtet haben. Der Geschichtsabsolvent und die Malerin, die heimlich Popmusik hört, hoffen auf eine freiere Zukunft. Doch Mohsen ist nachdenklich und deprimiert und leidet außerdem an Schuldgefühlen, weil er gegen seinen Willen an besagter Steinigung teilgenommen hat. Als es zu einem tragischen Unglücksfall kommt und Zunaira daraufhin als eine zum Tode Verurteilte unschuldig inhaftiert wird, kreuzt sich ihre Geschichte mit derjenigen des Gefängnisaufsehers Atiq, einem ehemaligen Kämpfer der Taliban. Der versehrte Kriegsveteran leidet wiederum unter Schuldgefühlen gegenüber seiner schwerkranken Frau Mussarat und hadert zunehmend mit seiner Rolle in einem System, dessen Ideologie er nicht mehr versteht und dessen Doppelmoral er ablehnt. In seiner Gefangenen Zunaira sieht er ein Opfer, das es zu befreien gilt.
Es ist die relative Zuversicht der Frauen, mit der diese gegen die allgemeine Repression opponieren und ein Gegengewicht bilden zu den niedergedrückten, desillusionierten Männern. Ein alter Professor drückt das stellvertretend aus, wenn er sagt, man müsse „hier bleiben“ und „von innen heraus für seine tiefsten Werte kämpfen, um die Kinder des gemarterten Landes zu retten“. Um Leben, Liebe und Menschlichkeit zu vermitteln, hat er eine Art „Geheimschule“ gegründet. Immer wieder zeigt der sehr ökonomisch erzählte Film in feinen Nuancen den schmalen Grat zwischen öffentlicher Überwachung und klandestiner Solidarität, auf dem sich die unterdrückten Menschen fortwährend bewegen. Am ambivalenten Schluss des Films wird ausgerechnet die Burka, Sinnbild der Diskriminierung, zum Mittel der Tarnung und Täuschung; und damit auch zum widersprüchlichen Symbol der Befreiung.
Der Film wird am 20.10.2022 um 0:10 Uhr auf Arte erstausgestrahlt und ist außerdem bis zum 25.10. in der Mediathek zu sehen.