Lieber Thomas

(D 2021; Regie: Andreas Kleinert)

Kino der Emphase

Schon die ersten Bilder von Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ sowie die überdimensionalen, die Leinwand füllenden Credits (sonst eher in den Filmen Gaspar Noés zu besichtigen) signalisieren, etablieren und behaupten ein Kino der Emphase und der Übertreibung. Mit großer filmischer Geste, überdeutlichen Unterstreichungen und pastoser Figuren-Zeichnung entwickelt der Regisseur ein bewusst lückenhaftes, von Unschärfen und Erfindungen gekennzeichnetes Biopic über den umstrittenen Schriftsteller Thomas Brasch (Jahrgang 1945), der in der DDR aufwächst und später im Westen lebt. Gegliedert nach Gedichtzeilen, die eine gewisse Widersprüchlichkeit und innere Zerrissenheit des umschwärmten Autors ausdrücken, folgt der Schwarzweißfilm einem Künstler, der mit sich und gegen eine repressive respektive ausbeutende Gesellschaft um Freiheit ringt. Die Darstellung einer exzessiven Künstlerexistenz, die sich hier weitgehend in Schreiben, Saufen und Vögeln erschöpft, bleibt allerdings ziemlich eindimensional und oberflächlich.

Das beginnt schon mit dem Internatsaufenthalt des kleinen Thomas, der sich als verträumter Junge gegen eine rigide, brutale Ordnung aus Zucht und Disziplin behaupten muss. Später, im Dramaturgie-Studium an der Filmhochschule Babelsberg, wird aus dem zum Schriftsteller berufenen jungen Mann (Albrecht Schuch) ein schlagfertiger Rebell mit Widerspruchsgeist, der von den Vertretern des Regimes kaum zu bändigen ist und der deshalb relegiert wird. Als er schließlich während des Prager Frühlings, ohne davon richtig überzeugt zu sein, zusammen mit seinen Freunden Flugblätter verteilt, kommt es zur offenen Konfrontation mit seinem Vater, einem ranghohen Kulturfunktionär, der den Sohn verrät. Haft, Zwangsarbeit als Fräser und die Ausweisung beziehungsweise Ausreise nach Westdeutschland im Jahre 1976 sind die gravierenden Folgen. Dass die ersehnte Freiheit auch dort weiterhin ein uneingelöstes Versprechen bleibt, muss der Verfemte schmerzlich erfahren.

Sowohl Braschs politischer Kampf als auch seine Literatur sind in Kleinerts Film – eine Ausnahme bildet die Beschäftigung mit dem schriftstellernden Mädchenmörder Brunke – merkwürdig unterbelichtet. Stattdessen konzentriert sich die Inszenierung mit einigen plakativen Schauwerten auf die Darstellung eines wüsten, wilden Künstlerlebens irgendwo zwischen Drogen, Sex und intensiven Schreibanfällen. Neben der Zeichnung einer hungrigen, kreativen Ost-Bohème bleiben vor allem Braschs Beziehungen zu diversen Frauen klischeehaft. Diese erscheinen vornehmlich als schöne, weitgehend konturlose Anhängsel eines auf seine Unabhängigkeit bestehenden Genies, das die hehren Ideale einer freien Liebe und einer ebenso freien Kunst postuliert und dabei auf jegliche Verantwortung pfeift.

Thomas Brasch, so gibt Kleinerts Film zu verstehen, will (gemäß der symbolischen Rahmenhandlung) hoch hinaus, schafft das, bedingt durch seinen frühen Tod im November 2001, aber nur zum Teil. Nur in den nahtlos in die Handlung eingeflochtenen Träumen, die mal aufsässige, widerständige und unversöhnliche, dann wieder friedliche, zärtliche und symbiotische Gegenwelten beschreiben, scheint zu gelingen, was dem widersprüchlichen Autor zeitlebens verwehrt blieb.

Lieber Thomas
Deutschland 2021 - 150 min.
Regie: Andreas Kleinert - Drehbuch: Thomas Wendrich - Produktion: Michael Souvignier, Till Derenbach - Bildgestaltung: Johann Feindt - Montage: Gisela Zick - Musik: Daniel Michael Kaiser - Verleih: Wild Bunch - FSK: ab 16 - Besetzung: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob, Jörg Schüttauf, Anja Schneider, Joel Basman, Emma Bading, Peter Kremer
Kinostart (D): 11.11.2021

DVD-Starttermin (D): 21.04.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt14873088/
Foto: © Wild Bunch