France

(FR/DE/BE/IT 2021; Regie: Bruno Dumont)

Gefangen in Selbsttäuschungen

Bevor der französische Präsident Emmanuel Macron seine große, mit Spannung erwartete Pressekonferenz beginnt, zeigt das erste Bild die über dem Élysée-Palast gehisste Trikolore. Sie solle den Staatschef mit einer Frage nach der „rebellischen Instabilität der französischen Gesellschaft“ aufs Glatteis führen, rät die forsche und etwas vulgäre Assistentin Lou (Blanche Gardin) ihrer Chefin, der Starjournalistin France de Meurs (Léa Seydoux). Diese trägt für ihren angriffslustigen, provokanten Auftritt einen roten Mantel. „Du zeigst ihn nackt“, frohlockt Lu über Frances Coup, begleitet von obszönen Gesten. Dagegen ist die auffallende, oft wechselnde Kleidung von France ein Markenzeichen. Die Identität einer schillernden Medienvertreterin als Repräsentantin des öffentlichen Lebens wird in Bruno Dumonts neuem Film „France“ zum Spiegelbild eines krisenhaften Landes. Dabei spielen die medialen Inszenierungen im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, Fiktion und Realität eine besondere Rolle.

„Un regard sur le monde“ lautet der Titel von Frances umjubeltem TV-Magazin. Doch „ihr Blick auf die Welt“ ist nicht nur ein höchst „subjektiver“, wie die Journalistin selbst einmal über ihren Stil sagt, sondern vor allem ein höchst inszenierter. Das Sensationsheischende und das Skandalumwitterte dominieren den politischen Inhalt. Auch Bruno Dumont interessiert sich mehr für die Mechanismen des Medienbetriebs, der mit Fiktionen eine Wirklichkeit herstellt, die aus Täuschungen besteht und zugleich zum Abbild einer krisenhaften Gesellschaft wird. Dass diese ihre Gefährdungen nicht bemerkt, ist dabei ebenso beunruhigend wie Frances Selbstbetrug. Denn noch in ihren Abstürzen wähnt sich die Sensationsjournalistin auf einer „Mission“, ohne zu bemerken, dass sie selbst ein Werkzeug und Opfer ist.

Dass das ihr Unbewusstes lange vor ihr weiß, signalisieren ihre wiederholten Tränen. France weint über sich und über das, was sie tut; vor allem aber über ihr eigenes Bild und ihre öffentliche Berühmtheit. Als sie einen Verkehrsunfall mit eher marginalen Folgen verursacht, verdichten sich die Anzeichen einer Identitätskrise. France, für ihren Mann (Benjamin Biolay) und ihren kleinen Sohn längst nicht mehr erreichbar, nimmt eine Auszeit, um ihr „krankes Herz“ in einem Kurhotel in den verschneiten Bergen zu besänftigen. „Ich möchte unsichtbar sein“, beschreibt sie in einer Therapiesitzung ihren Wunsch nach Anonymität. Doch dann wird sie selbst betrogen und zum Opfer der Klatschpresse.

Der Zwang zur Wiederholung im Kreislauf des Unabänderlichen und die Gefangenschaft in der jeweiligen sozialen Klasse scheinen Dumonts hyperrealistische Gesellschaftsdiagnose zwischen Groteske und Melodram zu dominieren. Trotzdem schwingt in der ausgestellten Künstlichkeit gedehnter Szenen und den schwebenden Sounds von Christophe am Ende doch auch eine leichte Hoffnung auf das Menschliche eines erwachenden Bewusstseins mit.

France
Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien 2021 - 133 min.
Regie: Bruno Dumont - Drehbuch: Bruno Dumont - Produktion: Jean Bréhat, Muriel Merlin, Rachid Bouchareb - Bildgestaltung: David Chambille - Montage: Nicolas Bier - Musik: Christophe - Verleih: MFA+ - FSK: ab 12 - Besetzung: Léa Seydoux, Juliane Köhler, Benjamin Biolay, Blanche Gardin
Kinostart (D): 09.06.2022

DVD-Starttermin (D): 31.12.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt9714030/
Foto: © MFA+