„Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“ Die Erfahrung, die Annie Ernaux in ihrer autobiografischen Erzählung „Das Ereignis“ sehr plastisch schildert, ist ihre illegale Abtreibung im prüden Frankreich der 60er Jahre. Die Regisseurin Audrey Diwan beschränkt sich in ihrem gleichnamigen Spielfilm auf diese unmittelbare Schilderung und lässt die Reflexionsebene weg, die Ernaux’ Bücher auszeichnet und auf der sie auf ihr jüngeres Ich zurückblickt und die Mechanismen des Erinnerns hinterfragt.
Diwan hat einen sehr körperlichen Film gedreht, der die traumatische Erfahrung angemessen drastisch ins Bild setzt, wie Ernaux, mit der die Regisseurin das Drehbuch abgestimmt hat, bestätigt. Niemand redet hier offen; um so direkter zeigt Diwan nackte, nicht sexualisierte Frauenkörper im Dampf der Gemeinschaftsduschen, Blut, Stricknadeln und andere Folterinstrumente und lässt Atem, Stöhnen und Schmerzensschreie sehr präsent erscheinen.
Die Kamera sitzt der Schauspielerin Anamaria Vartolomei, die den Film mit ihrer feinen Mimik in jeder Hinsicht trägt, förmlich im (durch den Pferdeschwanz freigelegten) Nacken. Damit sich die Zuschauerin mit der Protagonistin Anne identifiziert und aus ihrer Perspektive erlebt, wie distanzierte Ärzte, lüsterne Männer, missgünstige Kommilitoninnen, biedere Eltern, der desinteressierte Erzeuger und der verständnislose Professor die verzweifelt nach einer Lösung suchende Studentin behandeln, setzt Diwan auf ein altmodisches engeres Bildformat und eine intime Zusammenarbeit mit dem Kameramann Laurent Tangy. „Die Kamera sollte Anne sein, nicht auf Anne schauen“, so Diwan. „Er und Anamaria haben hart daran gearbeitet, im gleichen Rhythmus zu gehen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.“
Wir laufen mit Anne gegen den Strom sorgloser Studierender, denn seit der Feststellung der Schwangerschaft, die das Ende ihres Studiums zu sein droht und damit auch die Möglichkeit, aus der Arbeiterklasse aufzusteigen, fällt sie förmlich aus ihrem Leben und dem der anderen heraus, als wäre sie eine Aussätzige. „Die Zeit war nicht mehr eine Reihe von Tagen, die mit Unterricht und Papieren gefüllt werden mussten, sondern sie war zu dem formlosen Ding geworden, das in mir wuchs“, heißt es in dem 2021 mit 20 Jahren Verspätung auch auf Deutsch erschienenen Buch. In dem im selben Jahr in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film sind die immer bedrohlicher verstreichenden Wochen als Zeitangabe eingeblendet, ein grausamer Countdown.
An Vartolomeis Gesicht kann man die Distanz zu ihrer Umwelt ablesen, das Leiden unter der „Krankheit, die Frauen zu Hause hält“ und die sie und mögliche Mitwisserinnen und Helfer zu Kriminellen macht – ihr Dilemma, so Diwan: „Ihr Leben riskieren und abtreiben oder das Baby bekommen und ihre Zukunft opfern. Körper oder Geist.“ Ihre Bücher nutzt die Literaturstudentin, die Schriftstellerin werden will, nun als Hanteln, um durch Extremsport einen Abgang des Fötus zu befördern, aber dazu taugen sie nicht.
Dennoch erscheint Anne nicht als Opfer, sondern als Kämpferin, die Männern herausfordernd in die Augen schaut und in ihrem Liebes- wie Berufsleben selbstbestimmt und unabhängig sein will. Wie das Buch geht der durch sparsame Kulissen und kühle Farben überzeitlich gehaltene Film weit über die individuelle Erfahrung hinaus. Vieles lässt an aktuelle Formen struktureller Benachteiligung von Frauen in Medizin und Gesellschaft denken, die nicht nur Abtreibung nach wie vor zu einem Tabu und einer Privatsache machen. Ernaux, die „Ethnologin ihrer selbst“, nennt das, was sie erlebt hat, „eine allumfassende menschliche Erfahrung […], eine Erfahrung von Leben und Tod, von Zeit, von Moral und Tabu, von Gesetz, eine ganz und gar körperliche Erfahrung“. Am Ende des Films folgen wir der knapp dem Tod Entronnenen zurück in die Welt, in den Hörsaal zum Examen. Das letzte, was wir hören, ist das Kritzeln auf Papier.
Diese Kritik erschien zuerst am 31.03.2022 in: ND