„Wenn Sie irgendjemanden schädigen, werden Sie dafür bestraft, nur nicht, wenn Sie Vater oder Mutter sind. Zum Beispiel Schlagen ist eine lebenslange Schädigung. Wenn Sie ein Kind haben, sind Sie dem Kind schuldig, Schutz zu geben. Und wenn Sie nichts darüber wissen wollen, dann ist das ein Verbrechen.“
Der Schweizer Psychotherapeut Martin Miller erträgt es bis heute kaum anzusehen, wie seine berühmte Mutter Alice Miller (1923-2010) in Fernsehinterviews für Kinder Partei ergriff. Unter Tränen der Wut bricht es in Schwyzerdütsch aus ihm heraus: „Das ist einfach alles gelogen! Meine Mutter … erzählt genau das, was sie gemacht hat, und sagt, man darf das nicht machen. Und das ist meine Tragödie.“
Bereits 2013, drei Jahre nach dem Tod der Psychoanalytikerin, hatte Martin Miller versucht, sein „wahres ‚Drama des begabten Kindes'“ in einem Buch aufzuarbeiten und die Diskrepanz zwischen ihrem Einsatz für Kinderrechte und ihrer Kälte gegenüber dem eigenen Sohn, den der Vater schlägt und den die Eltern häufig weggeben, damit zu erklären, „wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“. Doch zur Ruhe gekommen scheint Martin Miller dadurch nicht. So entschloss er sich, in Begleitung des Dokumentarfilmers Martin Howald und von Irenka Taurek, Alice Millers Cousine und ebenfalls Holocaust-Überlebende und Therapeutin, an Orte der dunklen Vergangenheit seiner Eltern zu reisen und sich ihnen bei Recherchen in Polen, den USA und Berlin anzunähern.
Vom polnischen Ghetto und der Shoa, die sie dank falscher Papiere in ständiger Angst vor Entdeckung in Warschau überlebte, sprach die Mutter nie. „Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst“, analysiert Martin Miller, „rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben“ – zeitlebens verleugnete sie ihre Herkunft aus einer jüdisch-orthodoxen Familie. Den erwachsenen Sohn, der unermüdlich nach Erklärungen und Nähe sucht, hält sie sich mit grausamen, im Film von Katharina Thalbach mit dämonischer Stimme vorgetragenen Briefen vom Leib, in denen sie ihn mit seinem herrischen Vater oder gar mit Hitler vergleicht. „Lass uns jetzt trennen, wie es erwachsene Menschen tun, wenn sie einsehen, dass es ihnen unmöglich ist, miteinander zu kommunizieren. Deine Mutter.“
Erst spät gesteht sie ein: „Es war mir nicht gegeben, eine gute Mutter zu sein.“ Sie habe auf Martin „Dinge projiziert, die mit ihrer früheren Verfolgungserfahrung zu tun hatten“, urteilt der Therapeut, den Alice Miller erst mit fast 80 Jahren konsultiert und der Schweigepflicht entbunden hat. „Who’s afraid of Alice Miller“ belegt mustergültig die transgenerationale Weitergabe von Traumata und zeigt gleichzeitig den Versuch, den Teufelskreis zu durchbrechen.
Oft sieht man dem vom Leben gezeichneten 70-jährigen Sohn und seiner emphatischen Tante, ein Gegenbild zur Mutter, schlicht dabei zu, wie sie vorm Computer sitzen, Fotos sichten und in immer neuen Städten, Hotels und Archiven ankommen, was zu etwas spröden Filmbildern führt. Die Zuschauerin bekommt nicht wie üblich die Ergebnisse serviert, sondern ist bei der mühevollen und oft unbefriedigenden Recherche dabei, zu der verwirrend viele Personen (Verwandte, Zeitzeuginnen, Psychologen, Historikerinnen, Journalisten) beitragen, sodass der Film streckenweise wenig fokussiert wirkt. Doch spätestens, als am Ende alle um einen Tisch sitzen und mit viel Verständnis für alle Leidtragenden in dieser Geschichte Bilanz ziehen, versteht man: Bei seiner Suche hat Martin Miller eine Ersatzfamilie gefunden. Zu hoffen ist, dass sein persönliches Drama des begabten Kindes nun ein ruhigeres Ende findet: „Ich bringe die Gefühle meiner Eltern nach Polen zurück und kehre mit eigenen zurück“, resümiert er. Dass jedoch seine wertvolle Stütze Irenka Taurek kurz nach den Dreharbeiten starb, ist ein weiterer Schlag, den er verkraften muss.
Diese Kritik erschien zuerst am 11.11.2021 in: ND