„Wir haben teuren Weizen und arbeitslose Industriearbeiter“, liest der Mann in der S-Bahn den anderen Passagieren aus der Zeitung vor, „während Argentinien teure Industriewaren hat und arbeitslose Landarbeiter. Das Ganze heißt Weltwirtschaft und ist eine Affenschande.“
Selten wird im deutschen Film so fokussiert und so clever eingebettet über Ökonomie gesprochen. In diesem Film bildet sie – in ihrer ungleichen Ausformung zwischen Arm und Reich – den Haupterzählstrang. „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“, im Jahr 1932 von Slatan Dudow gedreht, ist zwar mit 74 Minuten recht kurz, dafür aber umso zielgenauer und durchaus sehr aktuell, geht es doch nicht zuletzt um das Recht auf menschenwürdiges Wohnen. Im Mittelpunkt steht eine Berliner Arbeiterfamilie, die von Sorgen und Mittellosigkeit geplagt, ihre Wohnung verlieren wird. Familienoberhaupt Bönike und sein Sohn sind arbeitslos wie das halbe Land, der Junge wird aus Verzweiflung sogar Selbstmord begehen. Tochter Anni hat zwar eine schlecht bezahlte Anstellung, ist aber mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert, ein großes Armutsrisiko. Anni wird später Hilfe der kommunistischen Arbeiterjugend erhalten.
Die Bönikes sind mit ihren Sorgen nicht allein, sie stehen für eine mittellose Klasse. Hausbesitzer und Polizei sorgen für reibungslose Räumungen der Arbeiterwohnungen. Die Handlung spielt gleichsam am Vorabend der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, deren Schlägerbanden die Straßen kontrollieren. Die Ära der Gewalt, der Aufmarsch in Uniformen und das totalitäre Denken kündigen sich im Film bereits an. Und das Werk selbst sollte Gegenstand mehrerer Zensurverfahren sein.
Die Kamera begleitet Arbeiterinnen und Arbeiter auf ihrem Weg in die Zeltstadt Kuhle Wampe, die dem Film den Titel leiht, darunter auch Anni. Den diskursiven Höhepunkt bildet die S-Bahnfahrt zurück in die Stadt, bei der sich Hinz und Kunz aus allen Schichten und Klassen im Waggon treffen. Die von Armut betroffenen Hauptfiguren Anni und ihr Freund Fritz debattieren mit sozial beglückteren Passagieren über die Weltwirtschaft – und wem die eigentlich gehört. Die Wohlhabenden würden die Welt nicht verändern wollen, sie profitierten ja von der Ungleichheit. Das müssten jene übernehmen, denen sie nicht gefalle, wie sie ist.
Das Drehbuch trägt die Handschrift Bertolt Brechts – es stammt von ihm und Ernst Ottwalt. „Kuhle Wampe“ gilt als einer der beiden kommunistischen Filme der Weimarer Republik, die in Deutschland gedreht wurden – der andere ist Dudows „Wie der Arbeiter wohnt“ (D 1930). In diesem Kurzfilm entwickelte der Regisseur die Stilistik eines proletarischen Reportagefilms, wie auch „Kuhle Wampe“ trotz Schauspielerensemble einer ist. Von Brecht stammt die Idee der Verfremdungseffekte: An mehr als einer Stelle hat man den Eindruck, die Handlung sei auf Stopp gestellt, um dem Publikum Zeit zu lassen, das Gesehene zu reflektieren. Das Ergebnis ist wunderbar, prägnant und bedrückend gleichermaßen, vor allem hat er tolle Darsteller; dieser Film wird nie seinen Glanz verlieren.
Dudow war in den Anfangszeiten der DDR-Filmgesellschaft DEFA ein wichtiger Regisseur, und Brecht erfand das Theater neu. Was die beiden wohl heute für Filme drehen würden? Themen müssten sie jedenfalls nicht lange suchen.
„Kuhle Wampe“ ist letztes Jahr aufwendig restauriert worden. Der Film ist seit dem 22. Juni auf dem Arthouse-Filmportal MUBI (www.mubi.com) zu sehen. Bei Atlas Film erschien im Herbst 2020 ein DVD-/Blu-ray-Mediabook.
Diese Kritik erschien zuerst am 04.08.2021 auf: links-bewegt.de