Kannst du dir deine Mutter als Kind vorstellen? Hättet ihr als Gleichaltrige befreundet sein können? Die achtjährige Nelly geht in „Petite Maman“ diesen Fragen auf den Grund. Als ihre Großmutter stirbt und die Familie das Haus ausräumt, hält die depressive Mutter Marion der Trauer und den Erinnerungen im Haus ihrer Kindheit nicht stand und lässt Nelly dort mit dem Vater zurück. Nelly geht in den Wald vor der Tür, um die Stelle zu suchen, an der ihre Mutter als Kind ein Baumhaus gebaut hat, und begegnet dort Marion als achtjährigem Mädchen.
Der Übergang zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit geschieht ganz unvermittelt ohne Erklärungen und ohne filmische oder mystische Zeitreisetricks. Geschmeidig bewegt sich Nelly zwischen den Welten hin und her. Zusammen mit ihrer bewährten Kamerafrau Claire Mathon, die traumschöne Bilder vom herbstlichen Wald (tatsächlich ein Kindheitsort der französischen Regisseurin) zaubert, bemüht sich Céline Sciamma in ihrem während des Lockdowns Ende 2020 im Großraum Paris gedrehten Film um Zeitlosigkeit der Szenerie. „Nicht um eine touristische Zeitreise“ geht es ihr, „sondern um die Möglichkeit, Raum und Zeit miteinander zu teilen, eine Zeitreise mit einem sehr intimen Ziel“.
Bei ihrer Begegnung auf Augenhöhe füllt Nelly sowohl die Rolle der besten Freundin als auch der Schwester aus, die die kleine Marion sich schon lange wünscht, und hilft beim Pfannkuchenbacken und beim Bau des Baumhauses, sodass es noch besser wird „als vorgestellt“ – es ist eine Freude, dem oft improvisierten, sehr natürlichen Spiel der Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz zuzusehen, besonders wenn sie kichern.
Die Tochter übernimmt jedoch auch eine Fürsorgerolle, die eigentlich Erwachsene innehaben sollten. Sie hört Marion zu, die mit einer chronisch kranken Mutter aufwächst, geht auf ihre Ängste ein und ermutigt sie, Schauspielerin zu werden. Psychologinnen könnten hier Parentifizierung wittern, eine gefährliche Umkehr der Rollen. Gleichzeitig sorgt Nelly für sich selbst, indem sie auf ihrer Zeitreise den versäumten Abschied von der Großmutter nachholt; und die kindliche Marion nimmt ihrer Tochter die Schuldgefühle („Du hast nicht meine Traurigkeit erfunden“) – und vielleicht sogar die Angst, ein ungewolltes Kind zu sein: „Ich denke jetzt schon an dich.“
Wo Erwachsene im Irrglauben, Kinder zu schützen, indem sie ihnen Unangenehmes verschweigen, oft Schaden anrichten, wird hier eine Utopie lebendig – gegenseitiges Verständnis, jenseits aller Hierarchien. Zwischen Mutter und Tochter entsteht eine Offenheit, die vorher, über die Generationengrenze hinweg, nicht möglich war. Man kann das Ganze als Bewältigungsstrategie der sich selbst überlassenen Nelly deuten, die sich auf eine imaginierte Suche nach den Gründen für die Traurigkeit der Mutter begibt – aber das würde nicht weit genug gehen. Denn Nellys Reise scheint auch die erwachsene Mutter beeinflusst zu haben. Als sie zurückkehrt, sind sich beide näher als zuvor.
In einem Theaterstück, das die Mädchen in der kurzen gemeinsamen Zeit mit verteilten Rollen einüben, verarbeiten sie Themen wie ungeplante Schwangerschaft und die Rolle alleinerziehender Mütter. Das Motiv der weiblichen Solidarität zieht sich durch Sciammas Werk, das sich feministischen und queeren Themen widmet und etwa in „Tomboy“ (2011) auch ein jugendliches Publikum adressiert.
„Petite Maman“ ist nicht nur formvollendet elegante Filmkunst, sondern hat eine geradezu therapeutische Dimension und löst bei der Zuschauerin unwillkürlich Gedanken an die eigene Familiengeschichte aus. Sciamma hat „Petite Maman“ bewusst in einer kindgerechten Länge von 70 Minuten gehalten und wünscht sich, dass Kinder zusammen mit ihren Eltern und Großeltern ins Kino gehen. Kann es einem Spielfilm gelingen, Ältere dazu zu animieren, sich mit ihrem inneren Kind auseinanderzusetzen, und Barrieren zwischen den Generationen und die in Familien verbreitete Sprachlosigkeit abzubauen? Den Versuch ist es wert.
„Es ist eine Zeitreise, um Menschen wieder zu vereinen“, sagte Sciamma in einem Interview. „Und das ist etwas, was wir tatsächlich tun können. Wir haben diese Reisemaschine in uns.“
Diese Kritik erschien zuerst am 14.06.2021 in: ND