Ema. Ein Name, eine Protagonistin, ein Titel. Das war schon bei Pablo Larraíns „Jackie“ (USA, 2016) so, dem US-Debüt des Chilenen, der seine ganze Aufmerksamkeit damals auf eine US-amerikanische Geschichte richtete und sich von der zuvor von ihm so oft verhandelten Geschichte Chiles abwandte. „Jackie“ war damit eine Art Unikat in Larraíns Schaffen, stilistisch aber eng mit seinen anderen Filmen verwandt, insbesondere mit dem nahezu zeitgleich erschienenen „Neruda“ (CL, 2016). Vielleicht muss man „Jackie“ gar als eine Art Schlüsselfilm Larraíns einstufen, der seine Heldin hier machen ließ, was er selbst stets machte: Geschichte schreiben. Oder besser: Geschichte gestalten. Und der seine Heldin auch über diese Tätigkeit reflektieren ließ.
Weniger direkt war diese Geschichtsschreibung schon Thema in Larraíns vorherigen Filmen: Ging es in „Fuga“ (CL, 2006) und „Tony Manero“ (CL, 2008) noch um die Überführung von Erfahrung in Musik bzw. um das Nachstellen der ikonischen „Saturday Night Fever“-Hauptfigur, so blickte Larraín in „¡No!“ (CL, 2012) auf die Macht des Marketings, die 1988 mit der No-Kampagne das Ende der Pinochet-Ära einleitete. In „El Club“ (CL, 2015) ließ er sündige, exkommunizierte Priester, ein anklagendes Missbrauchsopfer und einen Vertreter der Kirche um das Bild der Kirche ringen, in „Neruda“ inszenierte er das Ringen des flüchtigen Dichters und seines Häschers darum, wer von ihnen Geschichte schreiben und wer darin als Hauptfigur eingehen würde. Auch in diesen Filmen geht es letztlich darum, über unterschiedliche künstlerische Formen (Musik, Performance, Tanz, Film, Literatur, Sprache) die Vergangenheit oder die unmittelbare Gegenwart zu kommentieren und somit ihren zukünftigen Kurs zu beeinflussen. Aber wo „Neruda“ in bester 60er-Jahre-Autorenfilmtradition etwas verklausuliert bleibt, thematisiert „Jackie“ die Gestaltung von Geschichte ganz explizit und lässt Signifikat und Signifikant weitgehend zusammenfallen – wohingegen in „¡No!“ nur eine Art Feelgood-Kampagne durchgezogen wird, die mit der Pinochet-Diktatur gerade äußerst wenig zu tun hat, wo also die Zukunft von der Utopie beeinflusst wird und nicht von der Gestaltung des Vergangenen.
„Ema“, in dem nun wieder eine weibliche Hauptfigur mit ihrem Vornamen titelgebend gerät, nimmt auf andere Weise eine besondere Stellung in Larraíns bisherigem Gesamtwerk ein, schlägt aber tatsächlich eine neue Richtung ein, anstatt in aller Deutlichkeit frühere Linien zu bündeln. Denn zunächst einmal ist „Ema“ ein Gegenwartsfilm, kein Geschichtsfilm. Und anders als Larraíns Debütfilm „Fuga“, der ebenfalls in der Gegenwart spielte, führen hier auch keine eingeschobenen zusätzlichen Zeitebenen in eine düstere Vergangenheit zurück, welche die Figuren als Trauma heimsuchen würde. Zwar haben auch in „Ema“ die Hauptfiguren an den bedrückenden Ereignissen einer Vergangenheit zu knabbern, welche dem Publikum erst nach und nach erschlossen wird, aber diese Vergangenheit ist noch sehr jung, führt keinesfalls zurück in Zeiten der Diktatur. Ema, die Titelfigur, deren Name bereits an Mutterschaft gemahnt, ist in ihrer Beziehung zum Choreografen Gastón kinderlos geblieben, weshalb beide einen Jungen – nicht mehr ganz Kind, aber auch noch kein Jugendlicher – adoptiert haben. Doch der Knabe, der mit rebellischen Aktionen Aufmerksamkeit einforderte, verbrannte Emas Schwester eine Gesichtshälfte und wurde von seinen Adoptiveltern umgehend wieder abgegeben – was Ema nun, Reue empfindend, rückgängig machen möchte.
Das ist die Ausgangssituation eines Films, der sein Publikum lange im Unklaren darüber lässt, wer aus welcher Motivation heraus welche Interessen verfolgt. Ohne erahnbares Ziel tragen Ema, die Tänzerin und Tanzlehrerin, und Gastón, der Choreograf, in ihrer jeweiligen Verletztheit miteinander einen zunehmend intensiveren Beziehungsstreit aus. Sie geraten über voneinander abweichenden künstlerische Ziele und Perspektiven ihrer Tanzkompanie in Konflikt. Kolleginnen oder Freundinnen vom Jugendamt kritisieren ihre Entscheidungen. Ema bandelt mit einem Feuerwehrmann an, und schließt (eine nicht bloß platonische) Freundschaft mit einer Notarin. In den nächtlichen Straßen Valparaísos vollführt sie zerstörerische Flammenwerfer-Performances und strebt tagsüber eine neue Stelle als Tanzlehrerin an, ehe sich die Konsequenzen all dieser Ereignisse aus der anfangs noch irritierenden episodenartigen Erzählstruktur in der zweiten Hälfte des Films zunehmend herausschälen.
Den besagten und schon im Trailer eindrucksvoll platzierten Flammenwerfer-Performances kommt dabei ein großer Stellenwert zu: Hier wie auch im – von Gastón geschmähten – Reggaeton oder im Sexualverkehr lebt Ema mit ihren Freundinnen eine impulsive (und nebenbei die Umgebung umformende) Leidenschaft aus, in der das Innenleben ganz direkt in Körperlichkeit und Aktion transformiert wird. Gastón, der bisweilen für schwul gehaltene, scheinbar nicht zeugungsfähige Choreograf, rügt die Reggaeton-Auftritte als niveaulos und so sexualisiert wie sexistisch. In seinen Augen erscheint als Selbsterniedrigung und billige Darbietung, was in den Augen von Ema und ihren Begleiterinnen Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein und (Anziehungs-)Kraft ist.
Zwei aus der Historie in diesen Gegenwartsfilm eingeführte Details unterstreichen, dass Ema einen alten Geschlechterkonflikt überwindet. Denn in einer ihrer Aktionen mit dem Flammenwerfer setzt sie eine Büste in Brand, die an Arturo Prat erinnert: Anwalt, Kapitän und Nationalheld seit den 1860er-Jahren und seinem Einsatz im Spanisch-Südamerikanischen Krieg. Prat ist ein Mann, wie er im (Geschichts-)Buche und gegossen oder gemeißelt auf Sockeln steht: stechender Blick und imposanter Vollbart als Zeichen seiner Maskulinität, volle Bedeutungsschwere ausstrahlend. Er wird von Ema regelrecht gegrillt. Und dann gibt es noch eine andere Figur aus der Geschichte Chiles: Rebeca Matte, Namensgeberin des Colegio, an dem sich Ema gegen Ende des Films vor einer, allem Progressiven gegenüber aufgeschlossen wirkenden, Direktorin als Tanzlehrerin bewirbt. Matte – am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als Bildhauerin tätig – knüpfte nicht zuletzt dank der sozialen Stellung ihres Vaters Kontakte zu den Intellektuellen und Künstlern ihrer Zeit und hatte wie Ema den Verlust eines Kindes zu beklagen. Anders als Matte zählt Ema eher zu den suspekten Randfiguren der Gesellschaft, wie ihr die Jugendamt-Mitarbeiterin frei heraus sagt; und anders als Matte zerbricht Ema nicht am Verlust eines Kindes, sondern kämpft für ihr Glück. Sie ist somit eine zeitgemäßere Version Mattes, deren Name konträr zu dem von Prat eingesetzt wird. Mit diesen so auffällig wie flüchtig in Szene gesetzten Namen hallen die Verweise auf historische Personen aus Larraíns vorangegangenen Geschichtsfilmen in diesem Gegenwartsfilm noch nach.
In solch unscheinbaren Details – etwa auch in den kreisrunden Motiven, die immer wieder auf Mutterleiber zu verweisen scheinen, in den Motiven des Feuer(wehrmann)s und des Wassers oder in den einstudierten Tänzen – verleiht „Ema“ einer Beziehungskrise ein größeres Fundament: hier geht es ganz grundsätzlich um Geschlechterrollen, zu denen auch die sexuelle Identität gehört. Dabei füllt Gastón keinesfalls den Part eines Schurken oder eines Hanswurst aus: der von Gael García Bernal charismatisch gespielte Mann, der wie Mariana Di Girólamos wuchtig dargebotene Ema eher ein Sonderling in der Gesellschaft ist, der manchem als effeminiert oder schwul erscheint, der keinen Nachwuchs erzeugt und der etwas verkopft und überheblich seiner Partnerin erklärt, wie sie ihren Körper einzusetzen habe, gehört selber zum utopischen Bild der neuen Bandbreite des Mannes. Denn vielleicht gehören solche Fehlbarkeiten zu diesem neuen Bild dazu, das auch andere Männer einschließt: etwa den maskulineren, kräftigen (Feuerwehr-)Mann der Tat (der aufgeschlossener ist, als man zunächst meinen könnte). Auf der anderen Seite bilden Ema, ihre Partnerinnen und ihre geliebte Notarin ein ähnlich breites Bild von Weiblichkeit ab. Und die Sexualität, die sie alle verbindet, neigt mindestens ins Bisexuelle, wenn nicht gar ins Pansexuelle, wobei die Sexualität selbst nur Teil einer sehr viel größeren Ekstase ist, die in der Kunst, in rebellischer Performance und platonischer Zuneigung ihren Platz findet.
So ist Larraíns Film, der in ein ganz und gar erstaunliches, erhebendes Patchwork-Family-Szenario mündet, in welchem die Außenseiter der Gesellschaft mit der Mitte der Gesellschaft in Harmonie zusammenkommen können, letztlich ein Werk, welches sich den Filmen von Larraíns Landsmann und Kollegen Sebastián Lelio anzunähern scheint, der in „Gloria“ (CL, 2013) und „Eine fantastische Frau“ (CL, 2017) mit der transsexuellen Hauptdarstellerin Daniela Vega ebenfalls neuartig auf Geschlechterrollen und sexuelle Identitäten blickt – ähnlich kraft- und humorvoll, ebenso zuversichtlich.