Jesus ist schwarz, er ist Feldarbeiter und hat keine Papiere: Für seinen neuen spektakulären Film nimmt sich Milo Rau die Situation afrikanischer Migranten in Italien vor. Und wie es die Arbeitsweise des Schweizer Theater- und Filmregisseurs ist, bezieht er die Situation und die Menschen vor Ort in das Projekt mit ein. Spielort ist die süditalienische Stadt Matera – hier drehten schon Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Bibelfilme, zum Teil stehen sogar noch die Kulissen. Rau bringt das Genre auf den zeitgemäßen Stand und fragt: Was würde Jesus heute predigen und wie sähen seine Jünger aus?
Die Antwort: Er wäre ein Menschenrechtsaktivist und würde gerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Gestrandeten der europäischen Flüchtlingspolitik fordern, die offiziell zwar abgewehrt, aber als illegalisierte Arbeiter auf den Feldern der Agrarindustrie gern genommen werden.
Gemeinsam mit dem Aktivisten Yvan Sagnet, der Jesus spielt und früher selbst auf den Tomatenfeldern geschuftet hat, besucht Rau die aus Brettern und Pappe zusammengezimmerten Unterkünfte der Arbeiterinnen und Arbeiter, filmt an den Orten der Prostitution, in die afrikanische Frauen gezwungen werden, und lässt alle Beteiligten ausführlich zu Wort kommen.
Im Film inszenieren Raus Protagonisten ein Passionsspiel und interpretieren ihre Lage als biblisches Schicksal, das aber alles andere als unveränderbar ist. Dieser Film im Film ist Kunstaktion und Passion gleichermaßen – und vor allem: ein mitreißendes politisches Manifest.
Milo Rau ist einer der politischsten Regisseure unserer Zeit. Seit fast 20 Jahren geht er in seinen Theaterstücken, Filmen und Büchern mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in Europa und andernorts ins Gericht. So verband er in seiner „Europa-Trilogie“ (2014-2016) die Erzählungen seiner Schauspieler aus 13 Ländern – von Belgien über Russland bis nach Syrien – zu einer Geschichte der politischen Gegenwart.
Für das Meisterwerk „Das Kongo-Tribunal“ (2017) nahm er den Welthandel mit seltenen Erden und Metallen für die Digitalindustrie unter die Lupe. Dabei gelang es ihm, auf einer kleinen Theaterbühne in Berlin einen internationalen Gerichtshof zu erschaffen: Das Stück und der daran anschließende Film, die den Bürgerkrieg um Rohstoffe im Ostkongo behandeln, lassen echte Bergleute, Manager, Soldaten und Politiker vor einer Jury aus Anwälten und ehemaligen Richtern zu Wort kommen. Das Tribunal hatte ganz konkrete politische Folgen: Zwei Minister der Demokratischen Republik Kongo sowie der Gouverneur der schwer umkämpften Provinz Süd-Kivu, die das Zentrum des Bergbaus bildet, mussten zurücktreten.
In seinem neuen Film schafft Rau eine Synthese aus der Kritik an einer Weltordnung mit Europa als Zentrum und den Lebenswegen von Menschen, die von diesen Zuständen betroffen sind. Auch künstlerisch ist sein Film ein Meilenstein, er schließt an die Bildsprache Pier Paolo Pasolinis und anderer Regisseure an, die sich mit der Passionsgeschichte auseinandergesetzt haben. Matera, der Schauplatz und Drehort des Passionsfilms, war 2019 Kulturhauptstadt Europas. Milo Rau hat der Stadt ein Denkmal gesetzt; allerdings anders, als man es sich dort wohl vorstellte. Er gibt den sozial Benachteiligten eine Stimme, den Mittellosen, denen, die auf dem Boden schlafen müssen, während um sie herum die europäischen Tomatenplantagen blühen, den Ausgegrenzten in den ärmlichen und offiziell gar nicht existierenden Lagern. „Wo könnten die Widersprüche des modernen Europas sichtbarer sein als hier, und was wäre sinnvoller, als in dieser so unglaublich schönen wie armen Region einen politischen Jesus-Film zu drehen, in dem biblische Erzählung und echte Revolte ineinanderfließen?“, fragt Rau.
Es sei eine besondere Art von Film entstanden – zwischen Fiktion und Dokumentation, sagt der Regisseur. „Ein Evangelium für das 21. Jahrhundert, ein Manifest für die Opfer des westlichen Kapitalismus.“
Diese Kritik erschien zuerst in: Amnesty Journal 12/2020