Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit

(DE 2020; Regie: Yulia Lokshina)

Die Sprachlosen der Schlachthäuser

Aus der Vogelperspektive, in grünes Licht getaucht, sehen wir minutenlang ein junges Schwein, das vergeblich nach einem kleinen Ball an einer Kette schnappt. Es könnte sich um eine Form von Hospitalismus handeln. Dazu erklingt, auf einem Cembalo gespielt, Domenico Scarlattis „Fandango“. Schließlich erzählt eine Frauenstimme aus dem Off – das fast schon närrische Schwein versucht noch immer, den Ball zu erhaschen – die tragische Geschichte des polnischen Arbeiters Stanislaw, der in einem Schlachthausbetrieb durch einen grauenvollen Unfall sein Leben verliert. „Kannst du dich erinnern?“, insistiert wiederholt die Erzählerin. Längst haben der Lärm und die Zeit seine Schreie und seine Geschichte verschluckt. Dann wird die Geräuschkulisse des Schweinegeheges lauter, als wäre dies eine Entsprechung zum Gesagten; bis nach einem harten Schnitt ein Demonstrationszug ins Bild kommt, eine Art Prozession in rosa Schweinskostümen. „Europas größte Sauerei“, steht auf einem der Plakate, während die Demonstranten an einer Metzgerei vorbeigehen, die frische Ware aus eigener Hausschlachtung annonciert.

Gleich die ersten Szenen von Yulia Lokshinas preisgekröntem Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“, der ein sehr aktuelles und dringliches Thema behandelt, zeigen das dialektische Verfahren, mit dem in der Montage Bild und Ton verschränkt werden. Innerhalb einer Einstellung kommentiert und erhellt sich das Material gewissermaßen selbst. Yulia Lokshina und ihre Editorin Urte Alfs schaffen durch Überlappungen des Tons aber auch Verbindungen zwischen den Szenen, die multiperspektivisch einen Zusammenhang erkunden. Beleuchtet werden die Ausbeutung und Unterdrückung osteuropäischer Leiharbeiter, die sich in deutschen Schlachtbetrieben für Hungerlöhne verdingen und in erbärmlichen, menschenunwürdigen Verhältnissen leben müssen. Von einer „Parallelgesellschaft“ und von „rechtsfreien Räumen“ ist die Rede. Ein litauischer Arbeiter, der mit seiner Frau in einem Trailer auf einem Campingplatz lebt, hat ein sehr klares Bewusstsein von seiner Situation und dem dahinter stehenden System: „Wir arbeiten wie die weißen Nigger.“

Wie viel Verantwortung trägt der Staat auf dem diffusen Feld aus wirtschaftlicher Freiheit, unregulierter Arbeit und der Machtkonzentration von Konzernen? Und was kann der Einzelne dagegen tun, dass die namen- und sprachlosen Betroffenen vergessen werden? Der Film zeigt das Engagement verschiedener Helferinnen, Initiativen und Aktivisten. Zugleich kommen die Arbeitsmigranten selbst zu Wort, wobei das fast quadratische Bildformat eine besondere Nähe zu ihnen herstellt. Ein Integrationsrat fordert mehr politische Kontrolle, eine ehrenamtliche Sozialarbeiterin rekonstruiert den Weg einer traumatisierten Frau, die ihr heimlich entbundenes Kind ausgesetzt hat, und ein Pfarrer fordert während eines Gottesdienstes: „Das Kapital hat den Menschen zu dienen!“

Im Wechsel dazu proben Schülerinnen und Schüler eines Münchener Gymnasiums Bertolt Brechts Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ aus dem Jahre 1931, das auf diese Weise überraschende Aktualität gewinnt. Die Mitwirkenden diskutieren mit ihrem engagierten Lehrer unter anderem, ob das Unglück vorherbestimmt ist oder strukturelle Ursachen in der Gesellschaft hat. Yulia Lokshina geht es in ihrem vielschichtigen Film auch darum, das Gespräch über die Ungerechtigkeit wach zu halten.

Der Starttermin von „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ war zwar bereits am 22.10.2020. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie (Lockdown Light) wird der Film ab 03.12.2020 deshalb wiederaufgeführt werden. Mehr Infos dazu auf der Seite des Verleihs.

Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit
Deutschland 2020 - 92 min.
Regie: Yulia Lokshina - Drehbuch: Yulia Lokshina - Produktion: Isabelle Bertolone, Marius Ehlayil - Bildgestaltung: Zeno Legner, Lilli Pongratz - Montage: Urte Alfs, Yulia Lokshina - Verleih: JIP Film - FSK: ab 12 Jahren - Besetzung: Inge Bultschnieder, Alexander Klessinger
Kinostart (D): 22.10.2020

IMDB-Link: www.imdb.com/title/tt11898858/
Link zum Verleih: https://jip-film.de/regeln-am-band-bei-hoher-geschwindigkeit/
Foto: © JIP Film