Werwölfe mögen heute angesagter, Kannibalen als Kollektiv krasser, Vampire seit jeher sexyer seien als sie, aber: Zombies regieren. Denn sie sind ein Genre. Also, sie sind auch eine Gattung, zahlenmäßig meist größer als die der Un-Untoten. Sie sind aber nicht nur viele und praktisch überall, sondern, ausgehend vom Kino quer durch Medien, Plattformen und Formate, eben zu einem Genre geworden. Waren andere Monster der Filmgeschichte kurzlebiger oder an große Literaturvorlagen gebunden (und damit an große Einzelfiguren wie etwa diesen einen Fürsten der Vampire), so sind Zombies für sich und in ihrer Masse auch von Dauer.
Wie jedes Genre bietet auch Zombiekino heute viel Routine und etwas Variation – und es hat die Trauer um eine Hipness hinter sich gelassen, die spätestens 2012 oder doch schon seit „The Walking Dead“ oder vielleicht eh immer schon dahin war. Vielmehr scheint der Zombiefilm heute an einem Punkt angelangt, wo es angezeigt sein kann, sich zu verneigen im Rückblick auf Gründungsmomente seiner mittlerweiligen Normalität, konkret auf die britischen Filme „28 Days Later“ und „28 Weeks Later“ von 2002 und 2007.
Das tut auch der britisch-amerikanische Film „The Girl With All The Gifts“: Auch hier sind Zombies – im Kontext der Genredifferenzierung – nicht Untote im engeren Sinn, sondern Infizierte der mittelschnellen Art. Sie werden hier hungries genannt und zeigen ihre Kiefermuskelkraft im Beißreflex. Ihnen gegenüber spulen das Militär und die Wissenschaft, nicht weniger verbissen und oft in Rivalität miteinander, ihre jeweiligen Programme ab: schießen auf die einen, sezieren die anderen, schotten beide ab. Hinzu kommt ein Ethos des Lehrens und der Fürsorge als Alternativhabitus, der auch im echten Europa ab und zu noch etwas mitzureden hat. Alle routinierten Fähigkeiten, alle krisendienlichen technischen und sozialen Skills, aber auch prekäre, riskant zu praktizierende gifts kommen hier zum Tragen.
Selbstdisziplin, die Verhärtung ist, versus Selbsteinsicht, die Verzicht und bedachtes Sich-Öffnen heißt – nicht nur seitens einer beherzten Lehrerin, sondern auch für ein kluges Halb-hungry-Mädchen namens Melanie: Der proto-politische Konflikt wird hier prägnant, weil die Inszenierung (vom Schotten Colm McCarthy, bislang Fernsehregisseur) ihm ein Bildmilieu schafft. Urbane Zombiemassen nicht taumelnd und ächzend, sondern wie einen Skulpturengarten nah beieinander zu gestalten, stumm, starr, in einer Art Winterschlafzustand und fast nur durch Geruch oder Berührung reizbar – diese Idee wurde vielleicht schon einmal anderswo umgesetzt. In „The Girl With All The Gifts“ wird sie zu einem der plastischen Bilder einer Sozietät, die für alle beteiligten Ethnien/Spezies ein Einander-ausgesetzt-Sein bedeutet. (Auch für hungries kann es ein abzuwägendes Wagnis sein, mit „uns“ zu leben.) Ähnlich eindrücklich das Mund-Aufreißen-und-Zubeißen: Wie ein Affekt ergreift es schlagartig von einer Gruppe malträtierter Kinder Besitz.
Blässe und Grünstich, Sinn für Rhythmus und Raum, jeweils zwischen Routine und Kollaps beziehungsweise zwischen Beklemmung und Sturz ins Panorama, mysteriöse Bauten (Kinderkerker, Krankenhausruine) und Objekte (Riemenfessel-Rollstuhl, Fungus-Turm), ein guter multiethnischer Cast (Newcomerin Sennia Nanua als Melanie, ihr gegenüber Gemma Arterton, gegen den Typ gestylt im Arbeits-Outfit, Glenn Close knorrig, Paddy Considine als Sergeant), ein Score aus intimem Ethno-Techno, Sounddesign aus ferner Atmungs-Atmo, ein Hauch von Peter-Pan-Bandenkrieg (der rasch vorbeiweht) und vor allem bizarre Schulinstitutionsszenen am Beginn und Ende, die Bildungsbetrieb als Macht- und Problemmilieu weiterimaginieren – das ergibt einen Schocker, der viel Mitgefühl verlangt und einige Gedanken zulässt.
Diese Kritik erschien zuerst am 13.7.2017 auf: Spex.de