Die „Menschen in diesem unserem Lande“ (Helmut Kohl), sie verlangen erfahrungsgemäß nicht viel, politisch gesehen. Sie wünschen sich, das weiß man, als Vollstrecker ihrer politischen Ansichten einen Durchgreifer, Problemlöser, Macher, Ärmelhochkrempler. Und was der Vorstellungen dieser Art mehr sind, die man ihnen über Jahrzehnte hinweg per Glotze und „Bild“-Zeitung eingedengelt hat. Allerdings soll unter der harten Schale der Ordnung, Sicherheit und „Gerechtigkeit“ schaffenden und unerbittlich das Böse bekämpfenden Erlöserfigur auch das Menschliche bzw. Menschelnde durchschimmern: Er oder sie soll zugleich Trost spenden, einen an die Hand nehmen, freundlicher Onkel oder mitfühlende Tante sein. Jemand, zu dem man bewundernd aufschauen kann und der gleichzeitig „ein Mensch wie du und ich“ ist (oder diesen Eindruck wenigstens erfolgreich vermittelt) und nicht nur Charaktermaske des Waren und Arschgeigen produzierenden Systems.
Doch es ist auch nicht auszuschließen, dass man hierzulande Politiker, die sich auf diese Weise inszenieren, d. h. als Mischwesen aus unnachgiebigem Durchgreifer und fürsorglichem Kümmerer – und das tun nicht wenige -, auch ganz ohne das Zutun bzw. die Dauerpropaganda der einschlägigen Medien wählen würde. Macht kommt von oben, so lautet das ungeschriebene Gesetz, das die meisten Insassen dieses Landes verinnerlicht haben. Auch deshalb sind diejenigen, die sich in Wahlen von uns wählen lassen wollen, so sehr daran interessiert, Bilder von sich zu erzeugen, die uns entweder anrühren oder in Ehrfurcht erstarren lassen sollen. Oder bestenfalls beides.
Mit Bildern, mit Images gewinnt man die Menschen, mit der Inszenierung von Emotionen, nicht mit Argumenten, das weiß man, auch bei der Linkspartei, die ihren Kampf für soziale Gerechtigkeit bevorzugt mit nicht nur typografisch den Schlagzeilen der „Bild“-Zeitung nachempfundenen Wahlplakaten („Millionäre zur Kasse“ usw.) führt und mit eindimensionalen Slogans, die die sogenannte Volksseele ansprechen sollen.
Das weiß auch die ehemalige Bundestagsfraktionsvorsitzende der Partei, Sahra Wagenknecht, die in Teilen der Bevölkerung lange als eine Art Lichtgestalt galt, weil sie als der fest in den TV-Krawall-Talkshows installierte Dauergast, der sie lange Zeit bereitwillig war, geschickt und mit großem Talent die Rolle spielte, die ihr zugedacht war und in der sie sich allem Anschein nach auch selbst gerne sieht: die der „neuen Rosa Luxemburg“, der Rächerin der Enterbten, der „Stimme des Volkes“, der Verteidigerin von denen da unten gegen die da oben.
Den Machern des Dokumentarfilms „Wagenknech“«, der erst vor Kurzem auf der Berlinale seine Premiere hatte, gelingt es, diesem Image nicht ganz auf den Leim zu gehen und am Mythos von der Lichtgestalt Wagenknecht zumindest zu kratzen. Die eine Zeit lang überaus populäre Politikerin wurde von ihnen über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg mit der Kamera begleitet: Wir sehen „Sahra“ auf Foto- und Presseterminen, in Pausen auf ihrem Smartphone herumtippend, bei Interviews mit fürchterlichen Journalisten in ihrem Büro im Bundestag (Erste Frage: „Verrühren oder stampfen? Wie machen Sie denn Ihre Kartoffelsuppe?“), als Wahlkämpferin, auf auf Marktplätzen provisorisch errichteten Wahlkampfbühnen die Empörte gebend, beim Bad in der Menge, im vom Chauffeur gelenkten Dienstwagen beim Telefonat mit ihrem Ehemann: „Wie war’s bei dir in Wuppertal?“ Pause. „In Bielefeld bei mir lief’s ganz gut.“
Wir sehen ihr zu beim professionellen Aufsagen der handelsüblichen Politsprechblasen auf Pressekonferenzen („Wir müssen uns auf Inhalte konzentrieren und nicht auf personelle Fragen“). Wir betrachten die Führungsriege der Partei bei dem obligatorischen Ritual, dem alljährlich brav absolvierten Gang zu den Gräbern von Luxemburg und Liebknecht, bei dem die Politiker zu erkennen geben, dass sie wissen, dass es ein Ritual ist. Wir sehen Sahra Wagenknechts Erstarrung auf der Party am Abend der Bundestagswahl, als sie auf dem großen Bildschirm die unerwartet schlechte Prognose des Wahlergebnisses ihrer Partei zur Kenntnis nehmen muss, die weniger Stimmen bekam als die Rechtsextremisten.
Wenigstens sind hier nicht jene aus den genormten Fernsehdokus gewohnten stereotypen Bilder zu sehen, aus denen das unangenehm Berührende, das Schiefgelaufene, das Unpassende, das den äußeren Schein Störende wegretuschiert wurde.
Klar wird rasch: Politik ist heute ein Geschäft, in dem es zum Zweck des Gewinns von Macht um Inszenierung geht, um Theater, um Zirkus, um die Verführung der Öffentlichkeit, um die Erzeugung von Schein. Wagenknecht ist gut darin. Ein Mitarbeiter von ihr sagt in einer Szene, dass sie ein „Popstar“ sei, dass ihre Popularität seit 2013 kontinuierlich gewachsen sei und dass heute mehr Männer als früher anriefen, die sagen: „Sahra, ich möchte ein Kind von dir.“ Bei Wahlkampfauftritten von ihr schwenkt die Kamera über die Gesichter der versammelten Zuhörer: Man blickt in glänzende Augen. „Sahra, wir lieben dich“, sagt eine euphorisierte Frau.
Mit am schönsten ist wohl jene Szene des Films, in der die Fraktionsvorsitzende gemeinsam mit zwei ihrer Kollegen oder Mitarbeiter auf einer Wiese in der Nähe des Reichstags steht. Ein Reklamefuzzi und Fotograf ist auch da. Fotos für den bevorstehenden Wahlkampf sollen entstehen. Für diese soll die in ihrer Bundestagsabgeordnetenarbeitskleidung – hochhackige Schuhe und Kostüm – zum Fototermin erschienene Wagenknecht auf einer ausgebreiteten Picknickdecke posieren. Alles ist vorbereitet, damit es nachher so schön hochglanzplastikperfekt aussieht, wie man es aus der beliebten Heile-Welt-Frühstücksmargarinewerbung kennt: Decke, Körbchen, Picknickgeschirr, fein säuberlich angeordnete Häppchen. Kurze Zeit sieht man die Politikerin zögern. Einerseits hegt sie, wie es scheint, den leisen Verdacht, dass diese Art der Inszenierung ihrer Person als glücklich im Sonnenschein picknickende Frohnatur recht artifiziell und unwirklich wirkt. Andererseits scheint sie auch eine Ahnung davon zu haben, was beim gemeinen Volk gut ankommt: die kämpferische Supertopcheckerpolitikerin als heitere Muttifigur auf der Blumenwiese. Man glaubt Wagenknecht, die sich, was die mediale Inszenierung ihrer Person angeht, in der Vergangenheit nicht gerade zögerlich zeigte, in diesem Moment anzusehen, wie sie im Kopf abwägt: Bringt mir das was oder nicht? Bevor sie schließlich entscheidet, gemeinsam mit ihren Beratern über das Fotomotiv nochmal nachzudenken.
Mit dem andauernden, bei öffentlichen Auftritten nur schwer zu verbergenden, nicht ausgetragenen Bitchfight zwischen den beiden Parteivorsitzenden einerseits und der Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht andererseits beschäftigt sich die zweite Hälfte des Films: Wir sehen Bilder vom Parteitag, wo die eine demonstrativ nicht applaudiert, als die andere die flüchtlingsfeindlichen Einwürfe des Ehemanns der einen kritisiert. Wir sehen vielsagende Blicke. Wir sehen die nur mühsam unterdrückte Feindseligkeit, die zwischen den Beteiligten herrscht. Wir sehen, wie die eine dem anderen das Wort abschneidet und ihm das Rederecht entzieht. Wir sehen zu, wie etwas nicht thematisiert werden soll, das sich unterschwellig seinen Weg sucht. Und wir sehen, wie es zugekleistert wird durch das gemeinschaftliche rituelle Absingen der Parteihymne, der „Internationalen“. Manch ein Psychotherapeut hätte an diesen Bildern gewiss seine Freude.
Wie sagt Sahra Wagenknecht am Anfang des Films zu einem sie interviewenden Journalisten so schön? „Ich bin doch kein unerträglicher Mensch. Ich finde mich eigentlich ganz nett.“
Diese Kritik erschien zuerst am 17.03.2020 in: Neues Deutschland