Anne Fontaine, einst Schauspielerin – etwa im Soft-Erotik-Klassiker „Zärtliche Cousinen“ (1980) – hat ihre Schauspielkarriere um 2000 endgültig an den Nagel gehängt und sich auf ihre 1993 begonnene Regie-Karriere konzentriert, was im 21. Jahrhundert zunehmend mehr Frauen tun. Es folgten Filme über Frauenfiguren, etwa „Nathalie…“ (F/E 2003) und „Coco Chanel“ (F 2009). Mit „Marvin“ kehrt sie zurück zur Figur des schwulen Mannes, der sie sich schon im Rahmen der Kurzfilm-Sammlung „Die Liebe neu erfinden“ (F 1996) angenähert hatte.
Dass es eine Ähnlichkeit zwischen der Frauen- und der Schwulenbewegung gab, stellte die australische Feministin Germaine Greer schon in den frühen 70er-Jahren fest: Passiv Penetrierte erscheinen minderwertiger als aktiv Penetrierende – unabhängig vom Geschlecht (wobei die Rollen bei heterosexuellen Paaren diesbezüglich meist doch recht klar verteilt sind). „Marvin“ schenkt dieser profunden Erkenntnis, die auch heute zu wenig beachtet wird, einige Aufmerksamkeit. Denn Marvin ist nicht einfach bloß schwul, sondern übernimmt auch noch die vermeintlich weibliche Rolle.
Schon als Schulkind wird er als Mädchen verspottet, malen ihm die Schul-Rowdys die Lippen rot an, zwingen ihn, über ihre Brust zu lecken oder ihnen einen zu blasen. Nicht die bloße Homoerotik, sondern diese passive, etwas devote Rolle sorgt für Marvins vermeintliche Minderwertigkeit. Und gleichwohl ihm diese Übergriffe zu schaffen machen, kann er eine Begierde für diese Jungen nicht unterdrücken. Auch in seiner ärmlichen, bildungsfernen Familie ist er ein Fremder: Vater und älterer Bruder halten Homosexualität für eine Geisteskrankheit. Dass Fontaine den Vater, einen eher einfältigen Handwerker, trotz seiner Homophobie und seiner rassistischen Vorurteile nicht zum Monstrum stilisiert, ist einer der Vorzüge von „Marvin“: Der Vater pflegt erlernte Vorurteile und eine abwertende Sprache, ist aber zugleich – als Sohn eines gewalttätigen Vaters – in seinen Handlungen friedfertig und trotz seines massigen, haarigen Körpers nahezu sanftmütig und verletzlich. Andererseits greift der Film durchaus auf klischeehafte Feindbilder zurück. Und die Mutter, die ihrem Sohn unbekümmert davon berichtet, wie sie ihn seinerzeit auf der Toilette geradezu ausgeschissen habe, schrammt arg an der Grenze zur White-Trash-Karikatur.
Wohin sich die Handlung entwickelt, ist erst spät erkennbar. Lange Zeit laufen zwei Zeitebenen parallel. Erst nach der Halbzeit wird klar, wie die schon zu Schulzeiten einsetzende Begeisterung Marvins für das Theater beide Stränge verbindet. Ist der Kindheitsteil dem Leiden und der Verwirrung verbunden, widmet sich der Jugendteil der Selbstfindung und der Verarbeitung. Eine schwule Theatergröße öffnet Marvin über ihre Kunst die Augen – und regt den Jungen dazu an selbst künstlerisch seine Identität zu finden und zu festigen. Dass er sich allerdings einem deutlich älteren Liebhaber mit Kontakten zu Schauspiel-Ikonen wie Isabelle Huppert hingibt, sich – so der Vorwurf – hochzuschlafen gedenkt, sorgt ebenso für Zündstoff im Freundeskreis wie die Arbeit an einem autobiografischen Stück für Wut bei seiner Mutter.
Gegen Ende verzahnen sich Vergangenheit und Gegenwart immer stimmiger und es wird deutlich, dass die Figuren ein Produkt ihrer Erziehung sind – welche der Originaltitel ebenso ins Zentrum rückt wie der englische Titel („Reinventing Marvin“) die Neuerfindung der Hauptfigur, die sich irgendwann Martin nennt. „Marvin ou la belle éducation“ – Die „éducation“ meint auch „Bildung“. Und „Marvin“ verdeutlicht, was man hierzulande leicht vergisst, wenn man an „Bildung“ denkt: dass nämlich darin etwas Bildendes, etwas Formendes steckt. Und hier beginnt „Marvin“ sich etwas angreifbar zu machen. Denn er vertraut zu sehr darauf, dass Homophobie und Diskriminierung bloß Ergebnisse mangelhafter Bildung und eines begrenzten Horizonts sind. Diese Haltung hat auch einen großen Anteil an der fragwürdigen Zeichnung von Marvins Unterschichtsfamilie, die bisweilen zum Klischee gerät – woran auch eine eventuelle homoerotische Neigung der Homophoben nichts ändert, weil die ja selbst wieder ein Klischee ist.
So ist „Marvin“ trotz all seiner Konflikte – in denen der titelgebende Protagonist fast nur unschuldiges Opfer, kaum jemals schuldiger Täter ist – doch weniger interessant als das andere große Coming-Out-Drama seines Jahrgangs. Luca Guadagninos „Call Me by Your Name“ (BR/F/I/USA 2017) ist der ergiebigere Film, weil er zeigt, wie groß die Irritation auch ohne explizit diskriminierendes Umfeld sein kann. Dennoch ist „Marvin“ ein lohnenswerter Film. Weil zum einen Isabelle Huppert als Isabelle Huppert eine ihrer spannendsten Rollen erhalten hat – und weil Fontaine und ihr Co-Autor Pierre Trividic einen starken Jungstar gefunden haben: den Briten Finnegan Oldfield, der zuletzt in Katell Quillévérés „Die Lebenden reparieren“ (B/F 2016) und Bertrand Bonellos „Nocturama“ (B/D/F 2016) größere Bekanntheit erlangen konnte.
Dieser Text ist zuerst erschienen im „Stadtkind hannovermagazin“, 07/2018.