An der Eingangstür werden die Regeln für diesen Film festgelegt. Mit versteinertem Blick empfängt Jaqueline Kennedy (Natalie Portman) einen Reporter (Billy Cudrup) in Hyannis Port. Es soll das erste Interview nach den Ereignissen vom 22. November 1963 werden. Bevor er jedoch über die Schwelle ins Haus eintreten darf, macht Jackie Kennedy ihm klar, dass sie die Unterhaltung redigieren werde, „just in case I don’t say exactly what I mean.“ Nichts erinnert in dieser Szene mehr an die schüchterne First Lady, die unbeholfen und wie auf Schienen im Film „A Tour in the White House“ (USA 1962) durch die Räume des Weißen Hauses wandelt und über die neue Einrichtung spricht. Jetzt geht es um das Erbe. Am Ende bleiben zwei knappe, hart erkämpfte Seiten im Magazin „Life“ und die Beschwörung eines Mythos.
Begreift man den Filmanfang eines Biopics als symbolische Geburt der biographischen Figur, dann geht es in „Jackie“ um den Versuch einer Person sich nach dem Verlust ihrer Rolle als First Lady die Handlungsmacht über ihr Leben, über das Vermächtnis ihres Mannes und über ihr eigenes Bild in der Geschichte zu gewinnen. Die Türschwelle zum Kennedy-Anwesen Hyannis Port in Massachusetts symbolisiert demnach genau diesen Übergang und die Unsicherheit, die mit dieser plötzlichen Veränderung verbunden ist. Sie ist hier zugleich die Grenze zwischen öffentlicher und privater Person, zwischen Wahrheit und Inszenierung, zwischen aktivem Subjekt und ohnmächtigem, ehemaligem Staatskörper. Und Pablo Larraín, der in seinem Werk einen Hang zu biografischen Geschichten („No!“; CHL 2011, „Nerura“; CHL/ARG/ES/FR 2016) entwickelt hat, gelingt es in „Jackie“ kunstvoll entlang dieser Schwelle zu wandeln. Der Regisseur hat, das belegen bereits diese ersten Momente, kein umfassendes Portrait oder die Abbildung von Historischem im Sinn, so wie sich auch Jackie Kennedy nicht für objektive Darstellungen der Geschichte interessiert und den Reporter harsch wissen lässt: “The more I read, the more I wonder, when something is written down, does that make it true?“ Vielmehr konzentriert Larrin sich auf ein Loch in der Zeit, gerissen von Gewehrkugeln.
Wie die Tour durch das Weiße Haus aus dem Jahr 1962 inszeniert wurde führt in die Handlung von „Jackie“ ein. Mehrfach muss die Gattin des Präsidenten über eine Geste ihrer Assistentin (Greta Gerwig) daran erinnert werden doch zu lächeln. Ungelenk und häufig ihre Haltung und Position zur Kamera korrigierend wird Jackie Kennedy als First Lady gezeigt, die der Kamera hilflos ausgeliefert ist und gerade lernt, die Medien für sich zu nutzen. Larrain webt diese Momente in Bilder Jackies ein, in denen sie bestimmend und herrschend versucht, die Kontrolle über das Leben in den wenigen Tagen nach dem Attentat auf John F. Kennedy zu behalten. Allein die ausschweifenden Planungen zur Prozession und der anschließenden Beisetzung des 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika belegen ihr gewachsenes Verständnis hinsichtlich der Inszenierung des eigenen Lebens und der eigenen Leistung für eine Öffentlichkeit. Es entsteht das vielschichtiges Bild einer Person, die im beständigen Wechsel aufopferungsvoll, naiv, gewieft, gefasst, sensibel und zielstrebig erscheint und selbst in den unzähligen Nahaufnahmen nie zu fassen ist.
„Jackie“ wird so zu einem taumelnden, zerbrechlichen Film. Ein paar schnelle Schritte geht er mit seiner Protagonistin nach vorn. Doch diese Schritte, die Abfolge der Bilder sind nur der Versuch das Fallen aufzuhalten. In 100 Minuten und Löchern in der Erzählung wird das Trauma eines ganzen Landes zum Vorschein gebracht. Larraín lässt uns die Überforderung am Rande der Ohnmacht spüren, wenn Zeiten durcheinander gewirbelt werden, Wiederholungen und Ellipsen das Material durchziehen, Archivbilder mit Neuinszenierungen bis zur Ununterscheidbarkeit verflochten werden. „Now we have television, people can see for themselves“, sagt Mrs. John F. Kennedy an einer Stelle des Filmes scharfsinnig, während sie damit beschäftigt ist Jackie Kennedy zu werden. Die Macht über die Bilder hat sie verloren. Der Rhythmus des Filmes macht dies für die Zuschauer*innen spürbar. Aber dieser Verlust, der zugleich ein Verlust der eigenen Identität und der Deutungshoheit über die eigene Person sowie die Präsidentschaft John F. Kennedys bedeuten, muss durch Jackie Kennedy mit etwas gefüllt werden, bevor andere es tun: „People like to believe in fairytales. Don’t let it be forgot, that for one brief shining moment there was a Camelot.“
Das musikalische Pendent zu Jackie Kennedy bildet im großartigen Score von Mica Levi, den das Melodramatische wie das Grauenvolle gleichermaßen auszeichnet, die Querflöte. Urplötzlich hüpfen heitere Töne aufgeweckt über die dicht gewebten Streicherarrangements. Doch sobald die Luft zu hören ist, die über die Lippenplatte rutscht und Töne plötzlich unsicher zu schwimmen beginnen, offenbart das Instrument die Brüchigkeit der Tonerzeugung. Dann stürzten die gewaltigen Streicher es von einer Schieflage in die nächste und das Spiel gerät zu einem unzuverlässigen Tasten durch die finsteren Momente des Filmes, wie Jackies letztem Abend im Weißen Haus. Allein taumelt sie da, sich des blutverschmierten Kostüms entledigend, durch die überdimensionalen Räume. Geisterhaft und voyeuristisch zugleich folgt ihr die Kamera, um dann – alles scheint sich im Kreis zu drehen – auf ein leeres, der Wirklichkeit entrissenes Gesicht zu schneiden, das nichts mehr mit der Jackie aus „A Tour in the White House“ gemeinsam hat und vom beständig wiederkehrenden Glissando der Musik einmal mehr in den Abgrund gezogen wird.
Zum zentralen Motiv dieses Abgrunds wird in „Jackie“ der Sarg. Und je öfter er in den Erinnerungsmontagen zu sehen ist (im späteren Verlauf werden auch noch die verstorbenen Kinder der Kennedys umgebettet), umso mehr drängt sich die Frage auf, was sich noch in diesem lackierten Holzkasten verbirgt, den die amerikanische Flagge wie eine Daunendecke weich und heimelig umhüllt. Film kann, wie Georg Seeßlen einmal anmerkte, nicht bloß in der Vergangenheitsform erzählen, er muss als mythisches Medium selbst mit einer Vergangenheitserzählung in die Gegenwart hinein brechen und etwas über beides hinaus Wirksames erzählen. Zum Zeitpunkt der Wahlen in Amerika 2016, als allen unmöglich schien, was dann Realität wurde, verkörpert er in Larríns Film den Schock eines Landes in Vergangenheit und Gegenwart. Und so wanken wir gemeinsam mit Natalie Portman in einer ihrer überragendsten Rollen durch diesen beklemmenden Film – der selbst eine Prozession mit all seinen Fahrten und Bewegungen bei gleichzeitigem Stillstand der Zeit darstellt – und bleiben im Unklaren darüber, ob nach diesem Tag im November aus der Ohnmacht Orientierung erwachsen kann.